Gentleman war gestern – Wie der Differdinger Karateka Jordan Neves die Welt erobern will

Gentleman war gestern – Wie der Differdinger Karateka Jordan Neves die Welt erobern will
Jordan Neves (Foto: Editpress/Isabella Finzi)

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Es grenzt an Jammern auf hohem Niveau, wenn man als zu „gentleman“-haft beschrieben wird. Doch Karate-Nachwuchshoffnung Jordan Neves will diesem Vorurteil ein für alle Mal ein Ende setzen und eigennütziger werden: Der Weg zu den Olympischen Spielen 2024 führt ohnehin über viele Opfer – die er, seine Eltern und der Differdinger Klub zuletzt gebracht haben.

Frei nach dem Motto „was nicht passt, wird passend gemacht“: Während sich der Karate-Vorstand in diesem Herbst nicht nur weigerte, seine besten U21-Athleten zur Seniors-Weltmeisterschaft zu schicken, sahen die Verbandsverantwortlichen später auch von einer Turnierteilnahme Anfang Dezember in Schanghai beim prestigeträchtigen Turnier der Serie A ab. Familie Neves und der Karateklub Differdingen entschieden, ihren Sohn bzw. ihren talentiertesten Sportler auf eigene Faust dorthin zu schicken. Eine kostspielige Eigenfinanzierung.

Doch der Erfolg gab ihnen recht: Jordan Neves überstand drei Runden und sammelte wichtige Weltranglistenpunkte, die ihn bei der nächsten Ausrechnung im Januar wohl wieder ein Stückchen nach vorne (derzeit steht er auf Rang 87 der Welt) katapultieren werden. „Die Erfahrungen, die ich auf diesem Niveau sammele, kann mir niemand mehr wegnehmen. Einen Kampf gewinnt man auch im Kopf. Neben der Schnelligkeit, dem Timing und dem taktischen Verhalten spielt die mentale Stärke eine große Rolle. Das alles mache ich nur für mein einziges großes Ziel, die Olympiade 2024“, resümiert der Student im Vieraugengespräch vor der Trainingseinheit.

Plötzlich war das Licht aus

Zweimal in zwei Jahren ist die Luxemburger Nummer eins nun k.o. gegangen – zuletzt im September dieses Jahres. Erst zehn Minuten später wachte Jordan Neves umringt von Ärzten und Verbandsmitgliedern wieder auf. „Ich wusste natürlich gleich, was passiert war“, meint Neves. Um Langzeitschäden zu vermeiden, muss eine monatelange Reha eingehalten werden – so wurde der Athlet in dieser Woche erneut im CHL untersucht.
„Bei den Seniors sind die Schläge schon fester als im Jugendbereich. Aber sie müssen immer kontrolliert sein.

Der ’skin touch‘ ist trotzdem intensiver“, erklärt Neves weiter.
Wie man übrigens nicht mit solchen gefährlichen Verletzungen umgeht, erlebte er 2017, als man ihn noch am selben Tag weiterkämpfen ließ. Fahrlässig, wie er heute weiß. Übrigens werden im Normalfall nicht nur die „Opfer“ aus dem Verkehr gezogen, sondern auch die Sportler, die andere ausgeknockt haben.

Nur drei Europäer werden 2020 bei der olympischen Premiere in seiner Gewichtsklasse (-67 kg) antreten dürfen. Vier Jahre später will Jordan Neves diesem elitären Kreis angehören. Kein Ding der Unmöglichkeit, wenn man sich im nahen Umfeld anhört. Klubtrainer Suheil Zein El Abedin ist syrischer Champion-Macher gewesen, nach seiner Flucht in Differdingen gelandet und prompt fest eingestellt worden: „Ich habe gleich gesehen, dass er es zum großen internationalen Champ schaffen kann“, analysiert der Asienmeister von 1993. Fred Charlé, Vereinspräsident, hat ebenso ein riesiges Potenzial beim schlaksigen Rastamann bemerkt, wie Vater Nelson Neves bestätigt: „Eines Tages rief er mich an und meinte, dass Jordan großes Talent hätte – und wir ihn fördern müssten.“

Steckbrief

Jordan Neves
Geboren am 27. Oktober 1998
Nationalität: Luxemburger
Kategorie: U21 und Seniors, Gewichtsklasse -67 kg
Größte Erfolge: Dreifacher Seniors-Landesmeister Open und in der Kategorie -70 kg (2016-2018), Platz 7 bei der U18-Europameisterschaft 2015, Halbfinale beim K1 2017 in Rabat und 2018 in Rotterdam, Goldmedaille bei den JPEE (2016-2018)

Schluss mit Mathematik

Trotz der zahlreichen Niederlagen, die der Karateka in jungen Jahren kassierte, und eines kurzen Abstechers zum Progrès Niederkorn („das war damals eher Geraufe als Fußball“) blieb er der Kampfsportart treu – auch dank der Motivationsspritze von Charlé. Angemeldet hatte ihn seine Mutter im Alter von fünf Jahren aus einem ganz einfachen Grund, für den Vater Nelson auch heute noch die Augen verdreht: „Er war so ein unwahrscheinlich aktives Kind, das nie ruhig sitzen bleiben konnte …“, meint er kopfschüttelnd. Der Blick schweift auf den Sohn, der gerade seine Spezialtechnik, den Fauststoß (auf Japanisch „Kizami“), im Kampf gegen Zeins Sohn Hassan praktiziert. Normalerweise schaut er nicht beim Training vorbei, stattdessen versucht er, Geld für die Reisen in ferne Länder zu sparen. „Ich zähle das Geld nicht, das wir investieren. Jordan will gegen die Weltbesten kämpfen, und die kommen nicht nach Luxemburg …“

Gemeinsam mit dem nationalen Karate-Aushängeschild Tessy Scholtes wurde Jordan Neves 2011 vom Ex-Nationaltrainer Junior Lefèvre ins Nationalteam berufen und gleichzeitig im „Sportlycée“ aufgenommen. Doch auch hier lief es zunächst nicht nach Plan: Auf die erste Mathearbeit folgte damals nämlich eine riesige Ernüchterung. Nur 15 von 60 Punkten hatte Neves damals zusammenkratzen können.

Training und Prüfungsstress

Nach dem ernsten Gespräch mit den Eltern kam die Frage auf, ob die Einschreibung im klassischen Lyzeum nicht doch etwas zu hoch gegriffen war. Der damals 13-Jährige biss sich auf die Zähne und wurde fleißiger: Ehrgeiz, eine Eigenschaft, die auch heute noch zu seinen größten Stärken zählt. Die Kombination von Training und Prüfungsstress war zwar nicht immer ganz einfach zu bewältigen, doch in diesem Sommer schloss Neves dieses Kapitel erfolgreich ab – auch wenn es ausgerechnet wegen der Mathematik wieder einen Umweg über die „Noexamen“ gab.

Statt einem „zu trockenen Droit-Studium“ entscheidet sich der Karateka mit kapverdischen Wurzeln nach bestandenem Abitur für den Bachelor „International Sports Management“ an der Lunex-Universität in … Differdingen. Das Leben des Studenten spielt sich derzeit demnach komplett in der Oberkorner Sporthalle ab. Um in China starten zu können, wurden seine Klausuren dank seines Athletenstatus auf Ende Dezember 2019 verlegt. „Mit einem Studiengang im ökonomischen Bereich stehen mir später viele Türen offen“, blickt er hoffnungsvoll in die Zukunft. Doch der Sport hat derzeit Vorrang.

Fan der syrischen Küche

„Er ist einer der besten Karateka in Luxemburg“, meint sein Vereinstrainer ohne Umschweife.

„Das Einzige, was er noch lernen muss, ist, etwas cleverer mit einer Führung umzugehen“, fügt er hinzu – und dreht sich zum Sportler, den er in perfektem Englisch bereits warnt: „Ich habe das Video vom Kampf im Schanghai gesehen, wir werden das besprechen.“ Innerhalb von vier Jahren hat sich aus einer rein sportlichen Verbindung eine große Freundschaft entwickelt: „Jordan kommt oft zu uns nach Hause. Er mag unser Essen“, erklärt er mit einem Schmunzeln – und schickt den Sportler gleich zum Aufwärmen. „Ich habe sechs Kinder, aber er ist mein siebtes.“

Der nette Junge von nebenan, gebildet, respektvoll und mit guten Manieren, hat aus diesen Gründen auch schon mit einem Vorurteil zu kämpfen: „Ich bin auf der Matte eigentlich nicht mehr so ganz der Gentleman. Bei den Seniors werden keine Geschenke mehr verteilt“, meint er mit einem Lachen. Das hat auch die Konkurrenz mitbekommen. Athleten aus Kamerun kamen in Dubai auf ihn zu: „Sie meinten nur, dass sie meine Kämpfe gesehen hätten und ich viel Talent hätte.“

Hinzu kommt die vorteilhafte Statur, wie der Coach bemerkt, und sein ganz eigener Ehrgeiz: „Ich trete am liebsten gegen stärkere Gegner an. Ich mag es, der Underdog zu sein und die Menschen zu überraschen.“ Das erlebte auch schon ein ehemaliger russischer Weltmeister am eigenen Leib. Das nächste Ziel ist eine Topplatzierung bei der U21-Europameisterschaft im Februar in Dänemark. „Ich vertraue ihm voll und ganz. Er wird ein Champion werden, sei es in Europa oder auf der ganzen Welt“, meint Suheil Zein El Abedin eisern.

* Abseits der Matte herrscht in der Luxemburger Karate-Welt derzeit bekanntlich Krisenstimmung. Einen Bericht zur aktuellen Lage finden Sie auf hier.