Verständnis für eine Mörderin – Das Monodrama „Autopsy“ von Jemp Schuster

Verständnis für eine Mörderin – Das Monodrama „Autopsy“ von Jemp Schuster

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Eine als Kind geschlagene und missbrauchte Frau erzählt von ihren Männern, die „verschwanden“. Sie ist ein Opfer und eine Täterin zugleich, doch ob sie auch schuldig ist, muss der Zuschauer entscheiden. Mit „Autopsy“ taucht Jemp Schuster in die seelischen Abgründe von Missbrauch und Abhängigkeit ein.

Eine Frau, allein auf der Bühne, eingesperrt in eine Art Käfig. Ob es eine Gefängniszelle oder eine Zelle in einer Klinik ist oder ihr eigenes Ich darstellt, wird der Zuschauer erst am Schluss erfahren. 90 Minuten steht Michèle Turpel allein auf der Bühne und lässt das Leben einer Frau Revue passieren, die als Kind mehrmals missbraucht wurde und sich als Erwachsene an den Männern rächte.

Als wäre er Beobachter bei einer psychotherapeutischen Sitzung, erfährt der Zuschauer vom verpfuschten Leben der Frau: Als Kind wurde sie geschlagen und schon mal zur Bestrafung in den Keller gesperrt. Später wurde sie von einem Pfarrer vergewaltigt. Es folgt ein minutenlanges Schimpfen auf die Kirche, was einen Moment befürchten lässt, das Stück entwickelt sich zu einer anti-klerikalen Litanei. Doch keineswegs: Es folgen ihre Erfahrungen mit ihren Lebenspartnern. Stets gelangt sie an den Falschen: zu paternalistisch, zu jung, zu alt, zu untreu.

Gewalt ist eine Lösung

Aus deren Abhängigkeit kann sie sich nur mit Gewalt lösen. Einige ihrer Partner bringt sie um, einer stirbt einen natürlichen Tod. Bei jedem Freund steigern sich ihre Rachefantasien. Einen vergiftet sie mit Rattengift, einem andern entnimmt sie die nicht lebensnotwendigen Organe, damit er nicht Opfer der Organmafia werde. Dass der Mann seine Ausschlachtung nicht überlebt, hat sie eigentlich nicht gewollt.

Unterbrochen wird der Monolog von einem akustischen Signal, auf das die Frau wie ein trainierter Hund mit dem Mantra „Schold, schold, ech sinn un allem schold“ antwortet.

Schuldig als Opfer

Schuster gelingt es, die Ambivalenz der Situation in Worte zu fassen. Einerseits gibt er dem Zuschauer alle Informationen, die Verständnis für die Frau hervorrufen, andererseits unterwirft sie sich mit dem Schuldgeständnis einer bürgerlichen Moralauffassung, die allzu oft Missbrauchsopfern eine Teilschuld anlastet. Ein Problem der Frau ist, dass sie sich nicht verstanden fühlt. Sie ist Täterin, was sie zugibt, aber sie ist auch Opfer. Doch diese Rolle wird ihr von der Gesellschaft verweigert: Sie wird zum regelmäßigen Schuldgeständnis gezwungen.

Missbrauch und Freiheitsentzug, gefangen in einem Keller: Schuster erfindet nichts, sondern basiert sich auf reelle Fälle. Das bekannteste Beispiel ist die Österreicherin Natascha Kampusch, die acht Jahre in einem Verlies gefangen gehalten wurde. Das Bühnenbild von Serge Hoffmann und Claude Goetz verbildlicht die Ambivalenz der Situation: Die Frau ist einerseits tatsächlich in einem Raum gefangen, andererseits ist sie Gefangene ihrer Erinnerungen und der gesellschaftlichen Moralauffassung.

Schwarzer Humor, aber keine Komödie

Darüber hinaus integriert Schuster Elemente von schwarzen Humor in dem Stück, ohne dass es zu einer Komödie verkommt. Obwohl gelacht wird, ist es eher ein Lachen, das einem im Hals stecken bleibt. Dem Zuschauer gibt Schuster scheibchenweise Informationen über die Situation bis hin zu einem erstaunlichen und überraschenden Finale (nein, den Schluss erzählen wir Ihnen nicht).

„Autopsy“ ist ein starkes Stück Theater, das zum einen auf dem exzellenten Text aufbaut, zum anderen von einer bärenstarken Schauspielerleistung getragen wird. Michèle Turpel ist eine hervorragende Wahl für diese Rolle: 90 Minuten lang kann sie den Zuschauer mit „ihren“ Erinnerungen und ihrem Spiel fesseln.

Jemp Schuster gelingt (als Autor und Regisseur) ein großartiger Wurf: Es ist ein sehr kompaktes Stück, in dem er mehrere Themen – Kindesmissbrauch, Freiheitsentzug, Rache – unter einen Hut bringt und trotzdem eine Geschichte erzählt, die Hand und Fuß hat. Kurz: „Autopsy“ ist ein absolut sehenswertes Theatererlebnis.