Ukraine: Präsident Selenskij steuert auf seinen zweiten Wahlsieg zu

Ukraine: Präsident Selenskij steuert auf seinen zweiten Wahlsieg zu

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Am zentralen Soborny-Platz in der Hafenstadt Odessa scheint die Zeit stehen geblieben. Im Schatten der Bäume spielen Rentner Schach, entlang den Fußwegen werden wie zu Sowjetzeiten Gemälde verkauft. Sonnenblumen und romantische Sonnenuntergänge am Schwarzen Meer dominieren.

Von unserem Korrespondenten Paul Flückiger

Nur in der hinteren Ecke des Platzes haben ein paar Parteien ihre Zelte aufgebaut. Wahlhelfer hoffen dort auf Laufkundschaft für ihre Flugblätter. „Geben Sie Leonow Ihre Stimme, er ist ein guter Mann!“, wirbt Anna und drückt jedem Passanten eine grüne Zeitung in die Hand. Grün ist die Farbe der Hoffnung und zugleich die Farbe von Staatspräsident Wolodymyr Selenskij und seiner Partei „Diener des Volkes“ (ukrainisch: Sluha Narodu).

Der bärtige Aleksej Leonow mit seinen abstehenden Ohren steht als Pappkartonpuppe vor dem Zelt. Neben ihm lächelt ebenso aus Karton Selenskij, der vor zwei Monaten in der Hauptstadt Kiew als Staatspräsident vereidigte TV-Komiker. „Neue Männer braucht das Land“, wirbt Anna. „Die Alten und Erfahrenen haben wir alle schon ausprobiert, sie haben uns Bürger nur geringgeschätzt und erniedrigt“, begründet die Wahlhelferin. Aus 4.000 Online-Bewerbungen will Selenskijs Partei ihre Kandidaten in Castings ausgewählt haben. Einziges Kriterium war, dass es keine bisherigen Abgeordneten sein durften. In Odessa starten in der Tat lokal wenig bekannte Köpfe für die Präsidentenpartei. Darunter sind Sportler, junge Geschäftsleute, sogar ein einstiger Obdachloser – und keine einzige Frau. „Wir sind die neuen Leader – keiner unserer Kandidaten war bereits im Parlament“, lautet der Wahlslogan der „Volksdiener“.

Das Alte und Beständige wird durch Bürgermeister Gennadij Truchanow repräsentiert. Glaubt man allein den Wahlplakaten, so gibt es in Odessa nur einen Kandidaten, nämlich den Bürgermeister. Der angebliche Freund des im April abgewählten pro-westlichen Staatspräsidenten Petro Poroschenko hat zu dieser Wahl wieder seine russische Flagge herausgeholt: Nicht mehr Europa ist sein Ziel, sondern die Wiederannäherung an Moskau. Truchanow ist das Aushängeschild des „Oppositionsblocks“, einer der beiden führenden pro-russischen Bündnisse, die am Sonntag zur Wahl antreten.

Korrupten Bürgermeistern geht’s an den Kragen

Truchanows Macht lag schon immer im Hafen von Odessa, der seit der russischen Annexion der nahen ukrainischen Halbinsel Krim noch viel wichtiger geworden ist. Der Bürgermeister benötige dringend eine Immunität, wird in Odessa gemunkelt. Seit gut einem Jahr wird gegen ihn wegen Mafiakontakten ermittelt. Noch werde der Stadtherr in Kiew gedeckt, hört man in Odessa, doch sobald Selenskij die Staatsanwälte auswechseln könne, ginge es auch den vielen anderen korrupten Bürgermeistern in der Ukraine an den Kragen.

Es ist die Korruption, die den „Volksdienern“ und vielen weiteren neuen Parteien so viel Zulauf verschafft. Von der Maidan-Revolution an die Macht gebracht, konnte Poroschenko diesem ukrainischen Grundübel in den letzten fünf Jahren nicht beikommen. Anfängliche Erfolge blieben stecken. Poroschenko selbst setzte bald auf die altbewährte Vetternwirtschaft. Viele Ukrainer fühlen sich deshalb um die potenziellen Früchte des mit hohem Blutzoll erkauften Maidan-Sieges betrogen, besonders wenn man die Opfer der russischen Aggression im Donbas mit einrechnet.

In Odessa hat diese Enttäuschung Selenskij bei den Präsidentschaftswahlen mit über 80 Prozent zu einem Spitzenresultat verholfen. Landesweit stimmten damals fast drei Viertel der Ukrainer für den politisch völlig unerfahrenen Schauspieler mit immer noch ungeklärten Beziehungen zum Oligarchen Igor Kolomojski, seinem Mentor. Schnell zeigte sich jedoch in Kiew, dass die alten, pro-europäischen Kräfte sämtliche Gesetzesvorlagen des neuen Präsidenten blockieren. Dabei half Selenskij auch keine Zusicherung, den bisherigen Kurs auf EU und NATO zu halten. Weder einen Außenminister noch Geheimdienstchef konnte er berufen, obwohl das klar zu den Kompetenzen des Staatspräsidenten gehört. Einzig die vom Ex-Komiker gewünschten vorgezogenen Neuwahlen legalisierte das Verfassungsgericht im Juni.

Selenskij kann mit 40-50 Prozent rechnen

Für den Wahlkampf gab es folglich wenig Zeit. Dies wiederum hilft Selenskij, dessen Partei „Diener des Volkes“ erst im Entstehen ist. Sie kann vor allem von seiner Popularität als TV-Komiker zehren – sowie der Popularität der gleichnamigen TV-Serie über einen von Selenskij gespielten Lehrer, der unversehens zum Staatspräsidenten geworden ist, nun mit dem Fahrrad ins Präsidialamt fährt und dort die wahren Probleme der einfachen Bürger löst.

Dass die Wirklichkeit viel komplizierter ist, weiß keiner so gut wie Michail Saakaschwili. Unter dem Slogan „Ein Georgier mit der Ukraine im Herzen“ tritt der ehemalige Präsident des Kaukasus-Staates am Donnerstagabend umringt von Hunderten lokalen Fans bei der berühmten Potemkin-Treppe von Odessa auf. Der von Poroschenko 2017 des Landes verwiesene ehemalige Gouverneur von Odessa (2015-17) ist mit seiner ukrainischen Partei „Bewegung Neuer Kräfte“ zurück in seine Wahlheimat gekommen. „Passen Sie auf, Herr Selenskij, dass ihre heutigen Unterstützer Ihnen nicht bald das Messer in den Rücken rammen!“, giftet er gegen Korruption und Oligarchen. Neben Saakaschwili in einer schwarzen, kugelsicheren Weste über seinem weißen Trachtenhemd steht Oleh Michailik, der lokale Spitzenkandidat.

Knapp zehn Monate ist es her, dass auf den einstigen lokalen Maidan-Aktivisten ein Mordanschlag verübt wurde. „Ich war drei Minuten klinisch tot, diese Kandidatur bin ich Odessa schuldig“, sagt Michailik im Gespräch, „die Hoffnung stirbt zuletzt“. Laut den letzten Umfragen kommen Selenskijs „Diener des Volkes“ auf 40-50 Prozent der Stimmen. An zweiter Stelle liegt mit 10-15 Prozent die pro-russische „Oppositionsplattform – Für das Leben“ von Wiktor Medwedschuk. Poroschenkos Partei „Europäische Solidarität“ liegt bei rund acht Prozent, Julia Timoschenkos „Vaterland“ bei knapp sieben Prozent. Mit der Fünf-Prozent-Hürde ringen Truchanows pro-russischer „Oppositionsblock“, die Bürgeraktivistenpartei „Stimme“ (Golos) des Rocksängers Wjatscheslaw Wakartschuk, die nationalpopulistische „Radikale Partei“ und die neue konservative Partei „Kraft und Lauterkeit“.