Der Fisch stinkt vom Kopf her: Zur politischen Dimension von Chemnitz

Der Fisch stinkt vom Kopf her: Zur politischen Dimension von Chemnitz
Ja, aber rechter Terror: Seit Sonntag versuchen Rechtsextreme in Chemnitz, den Staat außer Kraft zu setzen.

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In Chemnitz kommt es seit Sonntag zu schweren Ausschreitungen Rechtsextremer. Es kam auch zu Angriffen auf Ausländer. Auslöser der Ereignisse war ein Tötungsdelikt an einem 35-jährigen Deutschen in der Nacht zum Sonntag. Zwei Männer aus Syrien und dem Irak sitzen deswegen in Untersuchungshaft.

Von unserem Korrespondenten Werner Kolhoff, Berlin

Die politische Dimension von Chemnitz ist nicht, dass dort zwei Ausländer mutmaßlich einen Deutschen niedergestochen haben. Das ist Sache der Justiz, und die Verdächtigen sind in Haft. Ein Mordfall erfordert keine Demonstrationen, sondern Handschellen. Vielleicht noch Gottesdienste. Die politische Dimension liegt nach bisheriger Kenntnis auch nicht im Motiv. Das muss noch aufgeklärt werden, es kann alles Mögliche sein. Dass aber Ausländer mit Messern einfach so gezielt Jagd auf Deutsche machen, ist eher selten überliefert. Anders übrigens als die Neonazis, die schon mal einfach so Jagd auf Ausländer machen. Mit genau 83 Todesopfern seit 1990.

Die politische Dimension liegt darin, dass in Chemnitz ein offenbar gut organisierter rechtsradikaler Mob auf so etwas nur gewartet hat, um puren Hass auszuleben. Und Macht, von der man sich fragt, wie groß sie schon ist. Er liegt darin, dass dieser rechte Mob sogleich unterstützt wurde durch „besorgte Bürger“. Und durch den politischen Arm der Militanten, die AfD. Große politische Bedeutung hat auch die Tatsache, dass dergleichen in anderen Städten vor allem des Ostens ebenfalls jederzeit geschehen könnte und, siehe Freital oder Bautzen, auch schon geschah. Besonders in Sachsen, aber nicht nur dort. Michael Kretschmer war 16 Jahre alt, als sich der Pogrom von Rostock-Lichtenhagen ereignete. Vielleicht hat er diese kulturelle Urschande der damals noch neuen Bundesländer altersbedingt nicht bewusst wahrgenommen. In vielen Regionen hat man seither viel Aufklärungsarbeit geleistet und Engagement aufgebracht, um diesen Ungeist zu überwinden. Nur teilweise mit Erfolg. Als Ministerpräsident und Christdemokrat wäre es Kretschmers verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen, das auch in Sachsen zu organisieren, als er sein Amt übernahm.

Seehofers schlimmer Satz

Denn dort hat man schon immer beide Augen zugedrückt. Auch in der Polizei, die in Chemnitz genauso naiv in die Ausschreitungen gegangen ist wie 1992 die von Mecklenburg-Vorpommern. Orientierungslos, überfordert, vorgeführt. Oder gibt es da eine klammheimliche Sympathie? Die Aktion der sächsischen Einsatzkräfte gegen das ZDF-Kamerateam in Dresden ist noch in frischer Erinnerung. Kretschmer deckte sie. In Sachsen stinkt der Fisch vom Kopf her.

Und im Bund? Horst Seehofer hat im Frühsommer sogar eine Regierungskrise riskiert, um das abflauende Flüchtlingsthema in den Vordergrund zu schieben. Aus bayrischen Wahlkampfgründen. Er hat so mit dafür gesorgt, dass das Erregungsniveau der rechten Szene hoch blieb. Das ist die Mitschuld des Innenministers.

Und jetzt, nach zwei Tagen peinlichen Schweigens, gibt er nur eine dürre Twitter-Meldung von sich, deren schlimmster Satz lautet: „Die Betroffenheit der Bevölkerung (über den Mord) ist verständlich.“ Ausländerklatschen, Hitlergrüße, Blutspritz-Sprüche sind keine Betroffenheit. Und sie sind auch nicht verständlich. Auch in Berlin stinkt es.