Project SyndicateDie Grenzen der extremen Covid-Geldpolitik

Project Syndicate / Die Grenzen der extremen Covid-Geldpolitik
Der Sitz der EZB in Frankfurt Boris Roessler/dpa

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Angesichts des durch die Covid-19-Pandemie bedingten Produktionseinbruchs fragen sich viele, wie weit sich die Geldpolitik strecken lässt, um die Wirtschaft zu stützen. Für die US Federal Reserve scheinen Negativzinsen eine faktische Grenze darzustellen – nicht, weil eine derartige Maßnahme technisch nicht machbar wäre, sondern weil sie politisch nicht akzeptabel wäre. Doch für die Europäische Zentralbank, die Bank von England und die Bank von Japan scheint es keine Grenze zu geben.

Die EZB hat die Zinsen schon lange ins Negative gesenkt, und der Gouverneur der Bank von England, Andrew Bailey, zieht diese Option für das Vereinigte Königreich Berichten zufolge „sehr sorgfältig in Betracht“. Und auch der Gouverneur der Bank von Japan, Haruhiko Kuroda, hat eine weitere Lockerung der Geldpolitik oder eine sonstige Steigerung der Wertpapierkäufe seitens der Bank nicht ausgeschlossen, obwohl er deren derzeitige Maßnahmen für die derzeitige Situation als angemessen betrachtet.

Die Frage ist, ob es sinnvoll ist, den Weg der extremen Geldpolitik weiterzugehen. Das berühmte Versprechen des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi, zu tun, „was immer nötig ist“, um den Euro zu stützen, hat sich in der aktuellen Krise zum Mantra aller politischen Entscheidungsträger entwickelt. Doch wäre die Ausweitung der Fiskalpolitik nicht eine bessere Methode, um diese Zusage zu erfüllen? Um eine Aussage des Chairman der Fed, Jerome Powell, umzuformulieren: Die Notenbanken haben die Mittel zur Kreditvergabe, aber nicht die Kaufkraft – und Kaufkraft ist, was derzeit gebraucht wird.

In der aktuellen Krise ist es zwingend erforderlich, dass das Geld diejenigen, die es am dringendsten brauchen, schnellstmöglich erreicht. Die Arbeitslosigkeit ist in vielen Ländern auf Rekordniveau gestiegen. In den USA haben allein im April über 20 Millionen Menschen ihre Arbeit verloren, was die US-Arbeitslosenquote auf 14,7% getrieben hat. Geht das so weiter, könnten es dieses Jahr 20-25% werden. Was die USA und die meisten anderen Länder in dieser Lage brauchen, ist ein nachhaltiger fiskalpolitischer Schub auf breiter Front, der in Abstimmung mit der Geldpolitik erfolgt. Ohne derartigen Schub sind eine langwierige Rezession und Langzeitarbeitslosigkeit in schwindelerregender Höhe deutlich wahrscheinlicher.

Ziele der fiskalischen Expansion

Eine fiskalische Expansion sollte zwei Hauptziele verfolgen. Erstens muss sie Bevölkerung und Unternehmen helfen, die Krise abzuwettern. In dieser Hinsicht waren die in den USA und anderen hochentwickelten Volkswirtschaften umgesetzten fiskalpolitischen Maßnahmen ein Volltreffer. Ende März hat der US-Kongress ein Konjunkturpaket in Höhe von zwei Billionen Dollar bewilligt, um Haushalte, Unternehmen und Gesundheitsdienstleister zu unterstützen, und die Demokraten im Repräsentantenhaus haben jetzt ein zweites Paket verabschiedet, das zusätzliche Ausgaben in Höhe von drei Billionen Dollar vorsieht.

In der Europäischen Union wurden derweil die Haushaltsregeln ausgesetzt, was es den Regierungen der Mitgliedstaaten erlaubt, ehrgeizigere diskretionäre Haushaltsmaßnahmen zu ergreifen. Diese reichen von Ausgabenerhöhungen und Steuerentlastungen bis hin zu Lohnergänzungsleistungen und Subventionen für kleine und mittelständische Unternehmen.

Das zweite Ziel der fiskalischen Expansion besteht darin, die wirtschaftliche Erholung durch Ankurbelung der Binnennachfrage zu unterstützen. An dieser Stelle reichen die angebotenen politischen Maßnahmen jedoch leider nicht aus, was die Gefahr birgt, dass wir den nach der globalen Finanzkrise von 2008 gemachten Fehler wiederholen. Damals wurden die fiskalischen Impulse zu früh zurückgenommen.

Es hieß damals, ein Einsatz der Fiskalpolitik zur Ankurbelung der Nachfrage sei politisch nicht machbar. Obwohl der Abschwung noch immer als ausreichend groß betrachtet wurde, um eine außergewöhnlich lockere Geldpolitik zu rechtfertigen, einigte sich das politische Establishment in den USA, Großbritannien und großen Teilen Europas auf eine Sparpolitik, die die noch in den Kinderschuhen steckende Erholung abwürgte und die Bühne für steigende Ungleichheit und gesellschaftliche Unzufriedenheit bereitete.

„Zombie-Firmen“

Diesmal drängen die bedeutenden Notenbanken in aller Stille auf „zusätzliche fiskalische Unterstützung“, um „langfristige wirtschaftliche Schäden zu vermeiden“ und eine „starke Erholung“ herbeizuführen. Eine derartige Unterstützung ist zudem nötig, um den auf den Notenbanken lastenden Druck abzumildern. Zugleich gibt es gute Gründe, die weitere Verfolgung einer extremen Geldpolitik zu vermeiden.

Zunächst einmal neigen extreme geldpolitische Maßnahmen dazu, den Spielraum für künftige politische Signale zu begrenzen und die Wirksamkeit der Zinssätze zu reduzieren. Beide sind unter normalen Umständen wirkungsstarke Hilfsmittel zur Beeinflussung von Produktion und Beschäftigung. Zweitens könnten sie die Anfälligkeiten aus der Zeit vor der Pandemie, die schon damals die Weltwirtschaft bedrohten, verschärfen. Dies umfasst nicht zuletzt die Anhäufung von Schulden, die Fehlallokation von Krediten und den Liquiditätsüberschuss im Unternehmenssektor (wo bereits zu viele Unternehmen problematische Bilanzen aufweisen).

Diese Sorgen führen uns zum dritten Punkt: Die weitere Lockerung der Kreditbedingungen und die Ausweitung staatlich unterstützter Kreditprogramme könnte die Kreditvergabe an Unternehmen erhöhen, die nicht in der Lage sind, diese Kredite in Wertschöpfung umzuwandeln. Bankrotte „Zombie-Firmen“ würden so künstlich am Leben gehalten. Selbst wenn derartige Maßnahmen für den Moment Arbeitsplätze erhalten sollten, heißt das nicht, dass sie den effektivsten Einsatz finanzieller Ressourcen darstellen. Japans „verlorenes Jahrzehnt“ sollte diesbezüglich als Warnung dienen. Je länger die Zombie-Firmen weiter vorantaumeln, desto höher sind die Verluste, wenn sie letztlich zusammenbrechen.

Verschärfung der Ungleichheiten verhindern

Und schließlich birgt ein Verlass auf die Geldpolitik, wenn die Fiskalpolitik angemessener wäre, die Gefahr, die überzogene Präferenz der Anleger für Liquidität weiter zu verstärken und so die Liquiditätsfalle zu vertiefen. Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass extreme geldpolitische Maßnahmen extreme und unerwartete Folgen haben können. Auch wenn sich eine unkonventionelle Geldpolitik inzwischen zur Norm entwickelt hat, wissen wir noch immer nicht genau, wie sie wirkt oder Erwartungen und Verhalten der Menschen beeinflusst.

Natürlich unterliegt, wenn der Spielraum für die Geldpolitik begrenzt ist, der Spielraum für die Fiskalpolitik ebenfalls engen Grenzen. Doch erfordern die aktuelle Notsituation und die Gefahr einer tiefen Rezession (oder gar einer Depression) unzweifelhaft mutige, „unkonventionelle“ fiskalische Maßnahmen – die durch andere Instrumente wie den jüngst von Frankreich und Deutschland vorgeschlagenen Europäischen Wiederaufbaufonds und innovative Kapitalmarktinstrumente wie ewige Anleihen, die für die EU ebenfalls vorgeschlagen wurden, unterstützt werden sollten.

Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Doch müssen wir es vermeiden, den Fehler von 2010 zu wiederholen, als die Regierungen auf die fiskalpolitische Bremse traten, während sie weiter den Fuß auf dem geldpolitischen Gaspedal hielten. Mehr denn je ist es derzeit erforderlich, eine weitere Verschärfung der bestehenden Ungleichheiten zu verhindern. Nur die Fiskalpolitik kann dieses Ziel voranbringen.

* Aus dem Englischen von Jan Doolan.
Paola Subacchi ist Professorin für internationale Volkswirtschaft am Queen Mary Global Policy Institute der University of London und die Verfasserin mehrerer Bücher, darunter zuletzt The Cost of Free Money.
Copyright: Project Syndicate, 2020.
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