NachrufVal Olinger: „E Liewe laang schwoarz-wäiss“

Nachruf / Val Olinger: „E Liewe laang schwoarz-wäiss“
Val Olinger im Jahr 2006 Foto: Tageblatt-Archiv/Isabella Finzi

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Ende April starb Val Olinger im Alter von 91 Jahren. Er war so etwas wie das Gedächtnis von Fußball-Rekordmeister Jeunesse Esch, erlebte 27 der 28 Meisterschaftsgewinne mit. Rückblick auf ein bewegtes Leben.    

Am 8. Mai stellten sich die Mannschaften von Jeunesse Esch und F91 Düdelingen vor dem Meisterschaftsspiel zu einer Gedenkminute auf. Es ist anzunehmen, dass sie Valentin, alias Val Olinger galt, der am 27. April im Alter von 91 Jahren gestorben war. Doch so ganz genau weiß man es nicht, denn das Stadionmikrofon blieb stumm. Auch wenn an diesem Tag keine Zuschauer zugelassen waren, so sind es solche Pannen im Zusammenhang mit seinem Herzensklub, die Olinger auf die Palme brachten. Denn er war ein Mensch, der es ganz genau nahm. Es ärgerte ihn zeitlebens, dass bei der Angabe der Zuschauerzahl des Jahrhundertspiels seiner Jeunesse 1959 gegen Real Madrid übertrieben wurde. Es waren insgesamt 19.000 Zuschauer im hauptstädtischen Stadion, keine 20.000 und schon gar keine 25.000. Das wusste Olinger genau, weil er damals Kassenwart des Vereins war.

Dass er alles genau nahm, lag nicht nur an seinem Charakter, sondern auch an seinem Beruf. Val Olinger war zunächst bei der Arbed Düdelingen im Lohnbüro angestellt. Da durfte man sich keine Ungenauigkeiten leisten. Die Lohntüten wurden noch persönlich überreicht, sodass Olinger die gesamte Belegschaft kannte. Darunter natürlich jede Menge Anhänger der drei Düdelinger Fußballvereine. Einen leichten Stand hatte Olinger dort also nicht. Später wechselte er in die Buchhaltung des Esch-Schifflinger Werks. „Bei der Arbed ging es um hunderte Millionen Franken, trotzdem wurde in den Bilanzen eine Differenz von einem Franken nicht akzeptiert“, erinnerte er sich in den zahlreichen Gesprächen mit dem Tageblatt

Fußball als Zufallsliebe

Zum Fußball kam Olinger per Zufall. Er war als Kind ein „steifer Dulles“, weshalb ihn sein Vater zur Fraternelle zum Turnen schickte. Dort lernte er einen Freund kennen, dessen Vater fanatischer Jeunesse-Anhänger war. Also fuhr er mit ihnen mit der Tram nach Düdelingen, wo 1937 die Meisterschaft entschieden wurde. Mit Jeunesse, Niederkorn und US Düdelingen hatten drei Mannschaften die Saison punktgleich beendet, eine Barragerunde sollte den Meister ermitteln. „Wir Kinder hatten freien Eintritt, doch konnten wir kaum etwas vom Spiel sehen, so viele Zuschauer waren da. Jeunesse gewann klar und war zum zweiten Mal Meister. Als ich die Freude bei den Erwachsenen gesehen habe, die sich in den Armen lagen und feierten, war es um mich geschehen. Ich hatte zuvor noch nie Fußball gesehen, aber seitdem ließ er und besonders Jeunesse mich nicht mehr los.“ 

Val Olinger an seinem Stammplatz auf der Escher „Grenz“ im Jahr 2007
Val Olinger an seinem Stammplatz auf der Escher „Grenz“ im Jahr 2007 100 Joer Jeunesse Esch/Tim Battin

Trotzdem hatte der junge Val noch andere Interessen. Er hatte Karl May entdeckt und verschlang dessen Bücher regelrecht. „Ich war richtig süchtig danach“, erinnert sich Val Olinger. Dann kam der Zweite Weltkrieg und die vierköpfige Familie Olinger wurde nach Frankreich evakuiert. Über Montpellier kam man ins Dorf Saturargues, wo 25 bis 30 Escher Flüchtlinge lebten. „Ich als späterer optimistischer Fatalist, Agnostiker und Atheist habe den dortigen Pfarrer kennengelernt. Dessen Genügsamkeit hat mich geprägt.“ Vals Vater, ein Schmelzarbeiter, verdingte sich in den Weinbergen. „Mein Vater war ein ‚Schaffert‘, der konnte keine zwei Tage am Stück nichts machen. Er bekam ein kleines Gehalt und zwei Liter roten Tafelwein pro Tag und sonntags noch eine bessere Flasche hinzu.“ Dazu gab es noch Unterstützung vom Luxemburger Staat.

Rückkehr nach Esch

Als Frankreich 1940 kapitulierte, wollte die Familie wieder nach Hause, trotz deutscher Okkupation. „Wir waren Escher. Das war unsere Heimat und wir hielten es in dem kleinen Dorf im ‚Midi‘ nicht mehr aus.“ Da die Familie durch die Arbeit des Vaters Geld hatte, konnten sie sich einen kleinen Transportwagen mieten und Richtung Heimat fahren. „Diese Fahrt ist etwas, was man nie im Leben vergisst. Die Hilfsbereitschaft der Menschen gegenüber uns Fremden war groß. Deshalb macht es mich wütend, wenn ich heute sehe, wie Flüchtlinge behandelt werden.“ Die Familie war also wieder in Esch, die von den Besatzern in SV Schwarz-Weiß 07 Esch/Alzig umbenannte Jeunesse war 1940 abgestiegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste sie in der zweitklassigen 1. Division weiterspielen. „Fola hieß damals Rote Erde Esch und war erfolgreicher und besser angesehen. Ich allerdings war geprägt vom sozialen Milieu, von der Hiel, von den italienischen Einwanderern. Man kann den ‚Quartiersveräin‘ Jeunesse nicht trennen von der sozialen Frage. Und mich auch nicht. Ich bin geprägt worden von dem Umfeld. Von den Ungerechtigkeiten, die bereits in Kindesalter auftraten.“ 

Gut gekannt hatte Olinger den Vereinsgründer Jhemp Weber. Auch er ein „armer Junge“, von sozialen Ungerechtigkeiten geprägt. Ganz im Gegensatz zu Professor Jean „John“ Roeder, der aus England kommend 1906 mit der Fola den ersten Fußballverein des Landes gegründet hatte. Weber hatte sich hochgearbeitet, genau wie Olinger, der aktiver Gewerkschafter in der FEP und später im OGBL war. Olinger wehrte sich gegen den „Rentenklau“ der Regierung vor einem Jahrzehnt. Unter dem Titel „Eines Militanten Rückblick auf die Luxemburger Sozialgeschichte“ erschien im Dezember 2012 im Tageblatt eine Extrabeilage, basierend auf seinen Erinnerungen.  

Olingers Gedächtnis war phänomenal. Ihm ist es zu verdanken, dass der Palmarès des Luxemburger Fußballs berichtigt werden musste. Als in den Statistiken des nationalen Fußballverbands FLF Niederkorn als Meister 1937 auftauchte, alarmierte Olinger die damaligen Jeunesse-Vereinsbosse Denis Scuto und Jemp Barboni. Die intervenierten beim Fußballverband. So kommt Jeunesse dann heute auf 28 Meistertitel, von denen Val Olinger bis auf den ersten (1921) alle miterlebte. Die meisten als Fan, aber einige auch als Vereinsfunktionär. So war er 1958 als Kassenwart kooptiert worden und wurde später kurzzeitig zum Vizepräsidenten. Aus dem Vorstand trat er aus, nachdem er auf einem Karnevalsball seine zukünftige Ehefrau Josette Simon kennengelernt hatte. Sie heirateten 1961. 1966 kam Tochter Claudine, 1968 Sohn Alex auf die Welt. 

Abnabelung vom Verein

Auch wenn er dem Vorstand nicht mehr angehörte, so blieb Jeunesse seine Leidenschaft. Ab Anfang der 2000er Jahre aber nabelte er sich immer mehr vom Verein ab, er war mit der Politik der Verantwortlichen nicht mehr einverstanden. Beim 100-jährigen Vereinsjubiläum engagierte er sich noch einmal, lieferte die Europapokalstatistiken und produzierte mit dem Tageblatt eine siebenteilige Serie zur Vereinsgeschichte. Dass seine Statistiken im Jubiläumsbuch durch einen Informatik-Fehler zum Teil falsch zugeordnet waren, ärgerte ihn maßlos. Genau wie die Tatsache, dass die damalige Vereinsführung unter Präsident Jean Cazzaro bei den 100-Jahr-Feiern lieber einen ihrer treuen Vorstandsfreunde ehrte, anstelle z.B. einer Vereinsikone wie René Pascucci. „Ohne den Spieler und Trainer Pascucci wäre Jeunesse nicht zur Nummer eins des Landes geworden“, sagte Olinger. In Lallingen waren die beiden Nachbarn. Mit dem 2018 verstorbenen Pascucci verband Olinger eine lange Freundschaft. Bis in die 2010er Jahre verfolgten beide die Heimspiele auf der Escher „Grenz“. Der Stammplatz waren die Gradins auf der Höhe der Mittellinie. Zum endgültigen Bruch mit dem Verein kam es, als im letzten Jahr griechische Investoren den Klub übernahmen. Olinger erneuerte seine Mitgliedschaft nicht mehr, und das, nachdem er 70 Jahre dem Verein angehört hatte. 

Val Olinger starb am 24. April im Alter von 91 Jahren. Seine Asche wurde am Baum Nr. 16 des Escher Waldfriedhofs verstreut. Quasi am äußersten Ende des Galgenbergs. Dort, wo die Hiel schon fast im Blickfeld ist. Jedenfalls näher dran am Jeunesse-Stadion als an dem des Lokalrivalen Fola. Hier wurde auch Romain Fiegen verstreut. Der Vater von Leichtathlet David und Abenteurer Raphaël war bei der Gemeinde Chef des „Service des Sports“ und ständiger Zaungast in beiden Stadien. Fiegen und Olinger verbindet eine Faszination für den Sport und gleichzeitig eine gesunde Abneigung gegenüber deren (finanziellen) Auswüchsen, allen voran denen des „modernen“ Fußballs. Sie hätten viel zu diskutieren am Baum Nr. 16.

Am Baum Nr. 16 des Escher Waldfriedhof fand Val Olinger seine letzte Ruhestätte 
Am Baum Nr. 16 des Escher Waldfriedhof fand Val Olinger seine letzte Ruhestätte  Foto: Editpress/Philip Michel