/ Neuanfang wie aus dem Bilderbuch
Chris Philipps hat am Mittwochabend vor rund 55.000 Zuschauern im fast ausverkauften polnischen Nationalstadion PGE Narodowy Geschichte geschrieben. Mit seinem neuen Verein Legia Warschau besiegte der 23-Jährige Titelverteidiger Arka Gdynia im polnischen Pokalfinale und holte als erster luxemburgischer Auslandsprofi seit 25 Jahren wieder einen Titel. Das Tageblatt war beim großen Triumph dabei und hat einen Blick hinter die Kulissen des geliebten und gleichzeitig gehassten Traditionsvereins aus der Hauptstadt geworfen.
Als Guy Hellers (Standard Liège/B) im Frühjahr 1993 den belgischen Pokal mit Standard Liège gewann, war der heute 24-Jährige Chris Philipps nicht einmal geboren. Gestern Abend kurz nach 18.00 Uhr kam ihm eine für luxemburgische Verhältnisse seltene Ehre zu teil. Er durfte den nationalen Pokal einer Profi-Meisterschaft in die Höhe recken. Der ehemalige Metzer stand gestern in der Startformation beim 2:1-Sieg gegen Arka Gdynia und will in den kommenden Wochen mit seinem neuen Teamkollegen das Double holen.
„Man merkt einfach, dass die Warschauer ihren Verein lieben“
Erst seit fast genau drei Monaten ist die 1,7-Millionen-Einwohner-Stadt an der Weichsel die Heimat des luxemburgischen Mittelfeldspielers. Nach zehn Jahren in Metz entschied sich Philipps am 2. Februar für einen Tapetenwechsel und bereut es bis heute nicht, den Verein, in dem er fast seine gesamte fußballerische Ausbildung absolvierte, verlassen zu haben: „Manchmal öffnet sich eine Tür aus einem bestimmten Grund. Es war mit Sicherheit der richtige Schritt. Metz ist fast abgestiegen und ich kann jetzt Titel gewinnen. Hier kann ich befreiter aufspielen und meine Leistung wird stärker gewürdigt. In Metz herrscht immer dieser Druck, sofort wieder auf der Bank zu landen, und ich hatte zu wenig Kredit. Bei Legia ist alles positiver.“
Heimisch wurde der Defensivallrounder in seiner neuen Heimat schnell. Bereits wenige Tage nach seiner Ankunft zog er vom Hotel in sein neues Zuhause: eine möblierte 110-Quadratmeter-Wohnung im Viertel Wilanow am Südrand Warschaus. Eine Stadt in der Stadt, bekannt für das polnische Versaille, Schloss Wilanow. Ein Großteil seiner Mannschaftskollegen wohnt in der direkten Nachbarschaft. Rund zwölf Kilometer außerhalb des Warschauer Zentrums gelegen, bietet dieser Bezirk die Abgeschiedenheit, welche die Legia-Profis brauchen, um auch mal ihre Privatsphäre genießen zu können. Auf der Straße haben sie nämlich selten ihre Ruhe. „Wenn man ins Zentrum geht, erkennen die Menschen einen. Ich sehe sehr oft Leute mit Legia-Shirts in der Stadt. Auch ich werde bereits angesprochen, auch wenn ich nicht immer alles verstehe. In Metz war das anders, da hätten die Fans wahrscheinlich am liebsten Sachen nach uns geworfen (lacht). Man merkt einfach, dass die Warschauer ihren Verein lieben“, sagt Philipps.
Harte Gangart
Und diese Leidenschaft überträgt sich auch ins Stadion. Die Legia-Fans haben sich in den vergangenen Jahren einen Namen gemacht. Im und außerhalb des Stadions geht es hoch her. „Wenn es sportlich nicht läuft, dann kommen die Ultras nach dem Spiel zur Mannschaft, werden teilweise handgreiflich und wollen Erklärungen. Das war zuletzt gegen Lech Posen der Fall. Während der 90 Minuten auf dem Platz werden wir aber lautstark unterstützt und nie ausgepfiffen. Das habe ich auch noch nicht erlebt. In diesem Moment merkt man, dass man nicht bei irgendeinem Klub spielt.“
Für Philipps war der Wechsel vor drei Monaten eine Reise ins Ungewisse. „Für mich war es ein Riesenschritt, in ein Land zu gehen, das ich noch gar nicht kannte. Vor allem privat war es eine sehr große Umstellung. In Metz hatte ich mein gewohntes Umfeld, war nah an meiner Familie und konnte immer, wann ich wollte, nach Luxemburg fahren. Aber meine sportliche Entwicklung stand im Vordergrund.“
Es ist ein spezieller Moment, aber ich bin ruhig. Ich glaube, ich brauche noch etwas Zeit um diesen Pokalgewinn zu realisieren. Es ist hoffentlich der erste Schritt von etwas Größerem. Wir wollen jetzt den Meistertitel holen und die Vorbereitung auf dieses Ziel beginnt morgen. Davor werden wir aber noch ein bisschen feiern, auch wenn wir bereits um 22.00 Uhr ins Bett müssen.
– Chris Phillips nach dem Pokalsieg am Mittwoch
Wenn Philipps über seinen neuen Verein spricht, strahlt er Zufriedenheit aus. Zehn Jahre in Metz haben ihre Spuren hinterlassen. Obwohl er aus dem Nachwuchs der Lothringer stammt, gehörte er nie zu den Publikumslieblingen im Stade Saint-Symphorien. Seine Leistungen wurden meistens kritisch beäugt. Kontinuität gab es für ihn nicht. Mal stand er in der Startelf, dann saß er wieder auf der Bank oder der Tribüne. Vor allem auf dem sozialen Netzwerk Twitter, das Philipps sehr aktiv nutzt, wurde er immer wieder von den sogenannten Fans angefeindet. „Ich musste mehrere Personen blockieren. Die Angriffe waren teilweise sehr persönlich und gingen zu weit. Darunter leidet man. Seit ich bei Legia bin, sind die Reaktionen positiver.“
Obama und Holdings
Auch in puncto Professionalismus ist Legia seinem alten Verein einen Schritt voraus. Die Heimspiele werden im 2010 renovierten Wojska-Polskiego-Stadion ausgetragen, in dem sich sogar eine kleine Klinik befindet. „Hier kann man sich zu 100 Prozent auf Fußball konzentrieren. Man isst zusammen, nimmt seinen Kaffee gemeinsam zu sich und trainiert. Es werden die besten Voraussetzungen geschaffen, um als Mannschaft Erfolg zu haben. Und da wir teilweise dazu verpflichtet sind, acht bis neun Stunden pro Tag auf dem Vereinsgelände zu sein, und alle medizinischen Möglichkeiten vor Ort haben, kümmert man sich auch besser um seinen Körper. Wäre ich Vater, würden mich diese langen Aufenthalte stören. In meiner aktuellen Lebenssituation sind diese Bedingungen jedoch perfekt um mich weiter zu entwickeln“, sagt ein zufriedener Philipps.
Der Mann, der dafür sorgt, dass der Verein sich immer stärker professionalisiert, heißt Dariusz Mioduski und ist seit 2014 alleiniger Klub-Eigentümer. Der heute 54-jährige Unternehmer verließ mit seiner Familie Polen im Jahr 1981, um dem kommunistischem Regime unter Ministerpräsident Wojciech Jaruzelski zu entkommen, der von 1981 bis 1983 das Kriegsrecht erklärt hatte, um die Demokratiebewegung Solidarnosc niederzuschlagen. In seiner neuen Heimat USA integrierte sich Mioduski schnell, wuchs in Texas auf und erlangte später einen Abschluss an der renommierten Harvard Law School. Dort lernte er den späteren US-Präsidenten Barack Obama kennen und spielte in seiner Freizeit mit ihm Basketball.
Einige Jahre später kehrte er nach Polen zurück. Zunächst als Jurist, später als CEO einer Holding und seit einigen Jahren als Besitzer mehrere profitabler Energie-Unternehmen, wie der Polenergie Holding Sàrl. die ihren Sitz seit 2004 in Luxemburg hat. Bereits die Vorgänger von Mioduski – die ITI Holding – waren hierzulande ansässig. „Die nächsten Jahre meines Lebens werde ich opfern, um aus Legia einen europäischen Elite-Klub zu machen“, verriet Mioduski kürzlich in einem Interview mit dem Harvard-Law-Bulletin.
In und um den Verein ist man begeistert vom Führungsstil des charismatischen Klubbosses wie der polnische Journalist Piotr Kozminski verrät: „Er ist wohl vermögend, aber keinesfalls einer der reichsten Polen. Mioduski ist sehr clever, intelligent und hat eine Vision. Er will, dass Legia national und international erfolgreich ist und legt sehr viel Wert auf die Entwicklung der Nachwuchsabteilung. Aber nicht um jeden Preis. In den letzten Jahren wurde vorsichtiger investiert.“ Das Budget der Legionisten liegt derzeit bei geschätzten 45 bis 50 Millionen. Damit sind die Hauptstädter der Ligakrösus. Das trägt nicht unbedingt zu ihrer Beliebtheit bei.
Geliebt und gehasst
Legia ist vergleichbar mit Bayern München in Deutschland oder Paris Saint Germain in Frankreich. Von den eigenen Fans vergöttert, von den Gegnern gehasst. Ursprung dieser entgegengesetzten Beziehungen ist die Zeit des Kommunismus. Legia war der Verein des Militärs und konnte ohne Ablösesumme und Erlaubnis Spieler der Rivalen verpflichten. Die anderen Klubs hatten keine Wahl, denn jeder polnische Mann musste zu diesem Zeitpunkt seinen Wehrdienst ableisten. Noch heute muss die Legia-Mannschaft bei Auswärtsspielen streng bewacht werden. „Wir haben immer eine Eskorte und ein paar Undercover-Polizisten in unserer Nähe“, so Philipps.
Der Luxemburger hat sich in den wenigen Spielen, die er bestritt, bereits einen Namen bei den Fans und den Medien gemacht. „Wir glauben, dass Chris Philipps ein sehr effizienter Spieler ist und er sich noch weiter entwickeln wird. Er wird wohl nie der beste Spieler der Klubgeschichte werden, aber es kommt bei den Fans immer gut an, wenn junge Ausländer verpflichtet werden. Spieler, die ihre Karriere bei Legia im hohen Alter beenden, sind nicht so beliebt“, erklärt Kozminski.
Dass die Zeit beim Hauptstadtverein durchaus von kurzer Dauer sein kann, erlebte Philipps vor vier Wochen als Trainer Romeo Jozak entlassen und durch seinen Assistenten Dean Klafuric ersetzt wurde. Für Kozminski eine logische Konsequenz: „Jozak hatte nicht viel Erfahrung, bevor er nach Warschau gekommen ist und hat einige schwere Fehler begangen. Dass die Fans nach dem Spiel gegen Lech Posen auf die Spieler losgegangen sind, daran hatte er eine Teilschuld. In der Pressekonferenz hat er gesagt, dass die Mannschaft wie Mädchen gespielt hat. Außerdem hat er mit Michal Kucharczyk eine Klubikone auf die Tribüne verbannt.“
Klafuric war für Philipps bereits der vierte Trainer innerhalb einer Saison, nachdem in Metz Philippe Hinschberger durch Frédéric Hantz ersetzt wurde. Nächste Saison könnte ein Fünfter hinzu kommen. Auch Klafuric muss den Verein wahrscheinlich Ende Mai verlassen. Ob er das Double aus Meisterschaft und Pokal gewinnt oder nicht. Als Nachfolger wird der aktuelle russische Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow gehandelt und die Legia-Bosse haben bereits über 100 Bewerbungsschreiben aus ganz Europa bekommen.
Der Luxemburger will hingegen Wurzeln schlagen in der Stadt an der Weichsel. Sein Vertrag läuft noch bis 2020 und eine vorzeitige Verlängerung ist nicht ausgeschlossen. Seine Freundin will nächstes Jahr nach Warschau ziehen und hat sich bereits nach Jobs umgesehen.
Und zu entdecken gibt es für Philipps noch so einiges. „Meine ersten Monate hier waren intensiv und ich hatte wenig Zeit, um die Stadt im Detail kennenzulernen. Es ist ein interessanter historischer Ort und ich bin gespannt, was Warschau noch zu bieten hat.“
Ziel: ein Tor
Chris Philipps hat in seiner gesamten Profikarriere (77 Partien für den FC Metz, Preußen Münster und Legia Warschau) noch kein Tor erzielt. Bald soll es jedoch so weit sein.
„Ich bin überzeugt davon, dass ich für Legia meinen ersten Treffer erzielen werde. Es wäre gut für meine Entwicklung und schadet einem defensiven Mittelfeldspieler nicht, auch einmal zwei bis drei Tore pro Saison zu machen“, meinte der 24-Jährige über sein Ziel.
Nicht die Nummer 1
Zum insgesamt 19. Mal gewann Legia den „Puchar Polski“ (deutsch: polnischer Fußballpokal) und ist damit Rekordsieger dieses Wettbewerbs. In der ewigen Rangliste der erfolgreichsten polnischen Vereine in der Meisterschaft – der Ekstraklasa – steht Legia hingegen nur auf dem vierten Platz mit zwölf Titeln. Gornik Zabrze, Ruch Chorzow (beide 14) und Wisla Krakau (13) führen dieses Ranking an – noch, denn seit der Jahrtausendwende hat Legia sieben Meisterschaften für sich entschieden, ist derzeit Tabellenführer und peilt den dritten Ekstraklasa-Titel in Folge an. 1993 wurde dem Verein ein Titel wegen Spielmanipulation aberkannt.
Als Klafuric Fola beobachtete
Legia-Trainer Dean Klafuric war vor seiner Zeit in Warschau vor allem in der Jugendabteilung von Dinamo Zagreb aktiv. Als der kroatische Serienmeister 2013 in der Champions-League-Qualifikation gegen Fola antrat, wurde Klafuric als Scout nach Luxemburg geschickt, um die Escher zu beobachten. „Fola hatte zu dieser Zeit einen sehr guten Trainer (Jeff Strasser, Anm. d. Red.). Die Mannschaft war sehr organisiert“, erinnert sich Klafuric heute noch.
Choreos und Gewalt
Berühmt-berüchtigt sind die Ultras des Hauptstadtklubs. Immer wieder machen sie mit spektakulären Choreografien und aussagekräftigen Schriftbändern auf sich aufmerksam. In dieser Saison sorgte vor allem eine Message für Aufsehen. Beim Champions-League-Qualifikationsspiel gegen FK Astana erinnerten die Legia-Fans mit einem riesigen Banner an den Warschauer Aufstand während des Zweiten Weltkriegs.
Abgebildet war ein deutscher Wehrmachtssoldat, der einem Jungen eine Pistole an den Kopf hält. Daneben war in englischer Sprache zu lesen: „Während des Warschauer Aufstands brachten Deutsche 160.000 Menschen um. Tausende unter ihnen waren Kinder.“ Diese Aktion wurde kritisch beäugt, da die Zyleta (zu Deutsch: „die Rasierklinge“), wie die Legia-Kurve genannt wird, bereits in der Vergangenheit durch rassistisches, antisemitisches und homophobes Liedgut auffiel.
Aber auch die Gewaltbereitschaft ist groß. Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu Übergriffen auf gegnerische Fans oder aber auch auf die eigenen Spieler. Einer ihrer Anführer ist Tomasz Czerwinski, der laut eigenen Aussagen 17 Jahre hinter Gittern saß und in ganz Polen für seine Gewaltbereitschaft gefürchtet ist. Berühmt wurde der bullige Mittvierziger, als er sich in Madrid laut spanischen Medien mit zwölf Polizisten prügelte.
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