ParalympicsFür Tom Habscheid ist am Samstag in Tokio alles möglich

Paralympics / Für Tom Habscheid ist am Samstag in Tokio alles möglich
Unter Fernand Heintz (r.) ist Tom Habscheid in die Weltelite vorgedrungen Foto: Anouk Flesch

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Hinter jedem guten Athleten steckt auch ein guter Trainer. So auch beim Paralympics-Teilnehmer Tom Habscheid. Verantwortlich für die intensive Vorbereitung auf allen Niveaus beim Elite-Para-Athleten ist Fernand Heintz.

Heintz ist kein Unbekannter in der Werfer-Szene, immerhin steht er mit seinen besten Würfen noch auf den Rängen fünf (outdoor) bzw. vier (indoor) im luxemburgischen Ranking. 19 nationale Titel, eine Silbermedaille und ein Bronzeplatz bei der Masters-WM sowie zwei Teilnahmen an den Spielen der kleinen Staaten schmücken seine sportliche Visitenkarte. Dabei war Heintz selbst ein sportlicher Späteinsteiger. Nach seiner Armeezeit hatte er überhaupt nichts mit Sport im Sinn. Mit 28 Jahren hatte sein Arzt ihm dann etwas Bewegung verschrieben: „So nahm ich an einer ‚Porte ouverte’ bei einem Leichtathletikverein, dem damaligen CAL, teil. Da habe ich ganz ohne Technik zehn Meter gestoßen.“

Der Anfang war etwas holperig, bis der Vater von Charles de Ridder (ehemaliger luxemburgischer Hammerwerfer, d. Red.) ihn in seine Werfertruppe einlud. Im Alter von 33 Jahren, mittlerweile bei einer Weite von 13 Metern angelangt, kam Heintz in Kontakt zu Lothar Altmeyer. Im Olympia-Stützpunkt in Saarbrücken wurde wohl der Grundstein zu seiner späteren Trainertätigkeit gelegt. Hier lernte er, dass auch Gewichtheben und Videoanalysen zum Training dazugehören. „Seitdem habe ich auf alles Wesentliche aufgepasst. Professionelles Training, gesunde Ernährung, genügend Schlaf, kein Alkohol, Massage. Alles ist wichtig, um Leistung zu erreichen. Das versuche ich heute auch den anderen Werfern zu vermitteln.“ Heintz hat sich schnell viel Basiswissen angeeignet und ist schon früh in Kontakt mit der Drehtechnik gekommen.

Wie kam jedoch der Kontakt zum Para-Athleten Tom Habscheid zustande? Fernand Heintz nahm an einem Wettkampf teil, weil er es seinen Schützlingen noch einmal zeigen wollte. Eine Art Motivationsschub: „Ich habe Tom im Wettbewerb gesehen und er hat mir irgendwie leidgetan, weil er fast alles falsch gemacht hat. Während des Wettbewerbs habe ich nichts gesagt, aber nachher am Tresen. Aufgrund meiner Ratschläge war er jedoch ganz interessiert und etwas überrascht, dass jemand Interesse an ihm zeigt. Für mich war das normal unter Sportlern. Er hätte sich verletzen können, da muss man helfen.“ So begann eine lange gemeinsame Reise, die Habscheid und seinen neu gewonnenen Trainer zu den Paralympics nach Rio (2016) und jetzt nach Tokio geführt hat.

Permanente Umstellung

Nach der EM 2014 in Swansea hat Heintz die Betreuung von Tom Habscheid in Luxemburg übernommen, anfangs nur mit ein bis zwei wöchentlichen Einheiten. Habscheid nahm weiterhin an Lehrgängen im Ausland mit seinem belgischen Trainer teil. Die Idee das Training komplett zu übernehmen, bestand zu dem Zeitpunkt noch nicht. „Die Erfahrung mit Behinderten fehlte mir ja gänzlich. Anpassungen waren jetzt gefragt. Ich musste mich komplett umstellen. Ich kann mich sehr schnell in andere Situationen hineinversetzen und simuliere mir dann die neuen Konstellationen.“ Galt es doch, Habscheid zu zeigen, dass es auch mit Einschränkungen möglich ist, verschiedene komplexe Übungen zu bewältigen. „Langsam, aber sicher konnte ich mich auf Tom einstellen. Nach einem Jahr merkte ich jedoch, dass ich links keine Kraft mehr im Bein hatte. Ich konnte keine Sprünge und keine schnellen Läufe mehr machen und bin nur so dahingehumpelt. Ich hatte nämlich alles mit rechts getan. Ich habe Tom gezeigt, dass es trotzdem geht, zum Beispiel wenn ich mir einen Besenstiel ums Bein festbinde, dann verhält es sich so.“

Schritt für Schritt hat sich das Duo vorangetastet. Trainingseinheiten ohne die Prothese waren für Habscheids Entwicklung extrem förderlich. Durch Sprünge auf dem gesunden Bein hat der Paralympics-Athlet an Gleichgewichtssinn gewonnen und sich enorm stabilisiert. Ein weiterer Schritt zur Professionalisierung war die Freistellung von Sportler und Trainer für die zunehmenden Trainingseinheiten und die wichtigen Lehrgänge. „Ohne die zusätzliche Intensität hätten wir Rio wohl kaum geschafft. Dies ist ein Verdienst von Romain Fiegen. Rio war für uns beide Anschauungsunterricht. Hier sind wir auf den Geschmack gekommen. Die Atmosphäre war großartig und das wollten wir nochmals erleben, denn eigentlich standen wir 2016 noch in den Kinderschuhen.“ 

Fast wäre der zweite Anlauf gescheitert. Mit Habscheids Verletzung kurz vor den geplanten Paralympics im Vorjahr musste die Handbremse gezogen werden. Ab Juni 2020 war an Kugelstoßen nicht mehr zu denken. „Kein Stoßen, keine Kniebeugen, alles, was das Knie hätte belasten können, fiel weg. Das Team des LIPHS hat uns auf therapeutischer Ebene unterstützt. Erst im Dezember war an normales Training wieder zu denken.“ Die Absage war somit ein Segen. Trainer und Sportler mussten sich erneut umstellen. Während dieser Rehabilitationsphase waren Stabilisation, Rumpftechnik sowie Pilates angesagt.

Seit 1976 keine Medaille

Nachdem fast alles bis auf null zurückgeschraubt wurde, ist Fernand Heintz nun ganz zuversichtlich. „Kräftemäßig fehlt wohl noch etwas, aber ich bin vorsichtiger geworden. Die Gesundheit geht vor einer Medaille. Mental ist Tom sehr gut drauf. Ein Podiumsplatz ist jedenfalls möglich. Letztendlich ist die Verfassung im Wettkampf ausschlaggebend.“

In den letzten Tagen in Tokio – Habscheid und Heintz reisten bekanntlich am 22. August nach Japan – standen noch Kraftübungen und Schnelligkeit auf dem Programm. Spieleabende oder Darts- und Tischtennisspielen im paralympischen Dorf wurden gegen aufkommende Langeweile eingesetzt. Auch dürfte der kürzliche Lehrgang in Portugal nun seine Früchte tragen. „2019 hat Tom nach einem Lehrgang seinen Weltrekord gestoßen. Darauf haben wir aufgebaut. Wir haben auf eine Bestleistung hingearbeitet. Wenn Tom dies erreicht, haben wir alles richtig gemacht. Ich bin stolz, dabei zu sein und dass Tom es so weit gebracht hat.“

Habscheid befindet sich seit Beginn dieser Woche in seiner Konzentrationsphase und lässt nichts mehr von außen an sich heran. Die gute Stimmung und die Emotionen der anderen Sportler im Dorf hat er jedoch aufgesogen. Die Abläufe vom „Call Room“ bis zur Siegerehrung hat das luxemburgische Duo beim Besuch von Wettkämpfen (Kugelstoßen, 100-Meter-Lauf) durchgespielt. „Alles ist möglich. Ich rechne mit vielen persönlichen Bestleistungen. Es wird keine einfache Sache.“ Seit Dienstag erlebt Tokio einen Wetterumschwung. Die Temperaturen sind auf 19 Grad gefallen und Nieselregen hat eingesetzt. Ein Umstand, der Habscheid mit seiner Angleittechnik nicht besonders benachteiligt. Im Olympiastadion heißt es für Tom Habscheid am Samstag ab 12.44 Uhr (MEZ) volle Konzentration im Kugelstoßring. Seit 1976 und den Medaillengewinnern Kaudé, Kockelmann und Bingen warten die luxemburgischen Para-Athleten auf mögliches Edelmetall auf höchstem Niveau. Zu hoffen wäre, dass Tom Habscheid diese lange Durststrecke nun beendet.

Rio war für uns beide Anschauungsunterricht. Hier sind wir auf den Geschmack gekommen.

Fernand Heintz