Tokyo 2020Das lange Warten: Petz Lahure über Charles Grethen, Josy Barthel und die Mittelstreckler

Tokyo 2020 / Das lange Warten: Petz Lahure über Charles Grethen, Josy Barthel und die Mittelstreckler
Josy Barthel bei seinem Olympiasieg 1952 in Helsinki Foto: „Von Athen bis Sydney“/Petz Lahure

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Wenn Charles Grethen heute Samstag um 13.40 Uhr Luxemburger Zeit (20.40 Uhr in Tokio) an den Start des 1.500-m-Finales geht, ist er erst der zweite Luxemburger, der bei einem olympischen Endlauf auf der Kurz- oder Mittelstrecke dabei ist. Der erste Läufer aus dem Großherzogtum, der dies schaffte, war Josy Barthel. Kurzstrecken sind Läufe bis 400 m, als Mittelstrecken werden die Distanzen von 800 m bis zur englischen Meile (1.609 m) angesehen.

Josy Barthel war 21 Jahre jung (geb. am 24. April 1927 in Mamer), als er am 6. August 1948 im Wembley-Stadion sein erstes 1.500-m-Finale bei Olympischen Spielen bestritt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Luxemburger Athlet in London bereits drei Rennen hinter sich. Am 30. Juli zog er über die 800-m-Distanz im dritten Vorlauf in 1‘54“8 ins Halbfinale ein, schaffte es am Tag danach (31.7.) aber nicht in den Endlauf und schied als 6. in 1‘54“6 aus.

Das Finale über 1.500 m erreichte Barthel am 4. August als Dritter des dritten Vorlaufs mit der Zeit von 3‘56“4. Der Endlauf fand zwei Tage später bei Regen und relativ kaltem Wetter statt. Er war anfangs geprägt vom Franzosen Marcel Hansenne, der zuvor Bronze über 800 m gewonnen hatte, auf der längeren Mittelstrecke aber Opfer seines eigenen Tempos wurde und sich mit dem 11. Rang begnügen musste.

Eine Bemerkung am Rande: Marcel Hansenne, der nach seiner Sportlerkarriere Journalist und Chefredakteur bei der französischen Fachzeitschrift L’Equipe wurde, trainierte nach dem Intervallprinzip des Deutschen Woldemar Gerschler, der in den 1930er Jahren den Ausnahmesportler Rudolf Harbig entdeckte und ihn zum mehrfachen 800-m-Weltrekord führte.

Auch Barthel verdankte sein Olympiagold von 1952 dem deutschen Trainer, der hauptberuflich Direktor des Instituts für Leibeserziehungen der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg war.

Von neun auf zehn

Der Luxemburger hielt dies übrigens in einem handschriftlichen Brief vom 26. Oktober 1952 an die Deutsche Olympische Gesellschaft fest: „Mein olympischer Sieg in Helsinki war ein Sieg der Kameradschaft mit meinem deutschen Trainer Woldemar Gerschler. Er ist für mich der Mann, der über nationale Interessen hinweg durch seine Haltung der olympischen Idee einen echten Dienst erwiesen hat. In diesem Geist siegte ich in Helsinki, und so möchte ich meinen Erfolg verstanden wissen.“

Doch zurück nach London 1948: Auf die beiden obersten Treppchen stiegen zwei Schweden, wobei Henry Eriksson (3‘49“8) seinen favorisierten Landsmann und Mitinhaber des Weltrekords Lennart Strand (3‘50“4) etwas überraschend besiegte. Bronze ging an den Holländer Willem Slijkhuis (3‘50“4).

Über das Klassement von Platz sieben bis zwölf sind viele Fachleute sich auch heute noch nicht einig. So wird Josy Barthel in den meisten Publikationen (sogar offiziellen) auf Rang neun geführt, doch dokumentiert der Film des Rennens eindeutig, dass der Amerikaner Don Gehrmann als Achter und nicht, wie in vielen Klassements vermerkt, als Zehnter einlief. Barthel rückt also einen Platz nach hinten, von Rang neun auf zehn. Seine Zeit: 3‘56“9.

52 Sportler

London 1948, das waren die ersten Spiele nach dem Zweiten Weltkrieg, zu denen Luxemburg 52 Sportler entsendete: 16 Fußballer, neun Turner, sechs Leichtathleten, sechs Fechter, sechs Radfahrer, vier Boxer, drei Kanuten und zwei Ringer. In der Leichtathletik-Delegation waren erstmals drei Frauen, die Sprinterin Tilly Decker, die Hochspringerin Triny Bourkel und die Weitspringerin Milly Ludwig. Allerdings gab es auch ein bedauerliches Forfait. Der Langstreckler Charles Heirendt, der den Marathon von Kosice gewonnen hatte, galt in London als einer der ganz großen Favoriten. Weil aber niemand für den Lohnausfall des Arbeiters aufkommen wollte, verzichtete Heirendt auf eine Selektion und blieb zu Hause. In der heutigen Zeit wäre eine solche Begebenheit unvorstellbar.

Auf seinem Weg zu den Spielen von London passierte das olympische Feuer auch Luxemburg. Genau 37 Sportler trugen die Fackel auf den 112 km von der französischen bis zur belgischen Grenze. Die Strecke führte von Frisingen über Bettemburg, Düdelingen, Kayl, Nörtzingen, Schifflingen, Esch, Leudelingen, Luxemburg, Lorentzweiler, Mersch, Ettelbrück, Feulen und Wiltz nach Doncols.

Das Gold von Helsinki

Vier Jahre später in Helsinki schaffte Josy Barthel es nicht nur zum zweiten Mal in einen Endlauf über 1.500 m, sondern er gewann das Rennen und holte offiziell die erste olympische Goldmedaille für sein Land. Bei diesen Spielen war Barthel nur über die längere Mittelstreckendistanz eingeschrieben. Er blieb unbesiegt. Am 24. Juli gewann er den ersten von sechs Vorläufen über 1.500 m in handgestoppten 3‘51“6 und tags darauf das zweite Halbfinale in 3‘50“4.

Knappe 23 Stunden später folgte der große Coup: Wir erinnern uns an diesen 26. Juli 1952. Es ist Samstag, 16.30 Uhr, ganz Luxemburg hat das Ohr am Rundfunkempfänger. Der Vater fummelt am Radioknopf. Die Franzosen wissen nur von ihrem Star Patrick El Mabrouck zu erzählen, bei den Deutschen geht andauernd und heftig vom langen Werner Lueg die Rede. Josy Barthel haben die wenigsten auf der Rechnung. Der schmächtige Mittelstreckenathlet aus dem kleinen Großherzogtum aber läuft die Konkurrenz in Grund und Boden und wehrt auf den letzten Metern den Ansturm des Amerikaners Robert McMillen ab: 3’45“2, neuer olympischer Rekord! Erbgroßherzog Jean hängt dem Sieger die Goldmedaille um den Hals. Barthel kann seine Tränen beim Abspielen der „Hémecht“ nicht verbergen. Im Land bricht unbeschreiblicher Jubel aus.

Die erfolgreichsten Spiele

Die Spiele von Helsinki 1952 waren die erfolgreichsten in der Geschichte des Luxemburger Sports. Unser Land beteiligte sich mit 15 Fußballern, sieben Leichtathleten, sechs Turnern, fünf Fechtern, vier Radfahrern, vier Kanuten, vier Boxern, drei Ringern und einem Schwimmer. Die Sportler wurden von einem „Chef de Mission“, einem „Chef de Mission Adjoint“, drei Offiziellen, einem „Attaché de Presse“, einem Arzt, einem Masseur und elf sogenannten Technikern begleitet.

Für die Luxemburger war natürlich Josy Barthels Sieg über 1.500 m der absolute Höhepunkt dieser Spiele. Doch auch andere Leistungen ragten weit über den Durchschnitt hinaus. So bezwangen die Fußballer England mit 5:3 nach Verlängerung und verloren nur 1:2 gegen Brasilien. Die Fechter verpassten die Medaillenränge zweimal ganz knapp. Im Degeneinzel stieß Léon Buck bis ins Finale vor und kam trotz sechs Siegen nur auf den undankbaren vierten Platz.

Denselben Rang belegte das Team Léon Buck, Fernand Leischen, Bub Gretsch, Paul Anen im Mannschaftswettbewerb. Nach Siegen über Australien (8:3), Frankreich (9:6), Finnland (10:6), einer Niederlage gegen Ungarn (4:10) und dem Halbfinalerfolg über Dänemark (10:5) war das Finale erreicht. Hier gab es allerdings gegen Italien (2:12), Schweden (3:13) und die Schweiz (4:8) nur Niederlagen.

Ein weiter Weg

In die Sportgeschichte ein ging auch die Zeit, die Robert Schaeffer, Jean Hamilius, Fred Hammer und Gérard Rasquin über 4×400 m erzielten. Die 3‘16“2 verschwanden erst 46 Jahre später aus den Rekordlisten, als Paul Zens, Claude Godart, Marc Reuter und Carlos Calvo in Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens, 3‘15“58 liefen.

Fast 70 Jahre sind seit Josy Barthels Einzug ins olympische 1.500-m-Finale vergangen, und niemand hätte auch nur im Traum daran gedacht, dass Charles Grethen im August 2021 Ähnliches in Tokio schaffen könnte. Selbst Barthel gelang es 1956 bei den Spielen in Melbourne nicht mehr, den Endlauf zu erreichen. Er scheiterte in seiner Serie mit einer Zeit von 3‘50“0. Ähnliches passierte schon Pierre Hemmer (4‘07“7) und Charles Stein (4‘17“0) bei den Spielen von Berlin 1936. Beide schieden vorzeitig aus.

Übrigens scheiterten auch alle Mittelstreckler, die bei Olympia über 800 m für Luxemburg an den Start gingen, vorzeitig, der Reihe nach Jean Proess (1920), Christophe Mirgain (1924), Louis Schmit (1928), Pierre Hemmer (1936), Charles Stein (1936), Josy Barthel (1948), Gérard Rasquin (1956), Norbert Haupert (1960), Michel Medinger (1964), David Fiegen (2004), Charline Mathias (2016) und Charles Grethen (2016).

Gesucht, gefunden?

Mit seiner neuen Rekordzeit von 3‘32“86 steht Grethen nun einsam an der Spitze der ewigen Luxemburger Bestenliste über 1.500 m. Hinter ihm folgen Justin Gloden (1980) mit einem Abstand von 7‘06“ (3‘39“92) und David Fiegen (2004) mit einem Rückstand von 7‘12“ (3‘39“98). In dieser ewigen Luxemburger Bestenliste liegt Josy Barthel immerhin noch auf dem 8. Rang. Zwei Plätze vor ihm ist René Kilburg klassiert, der die Zeiten des Olympiasiegers als Erster unterbot.

Barthels Rekorde über 1.500 m, die Meile und 2.000 m hielten bis in den Sommer 1966 hinein, ehe Kilburg sie zwischen dem 22. Juni und dem 7. Juli 1966 verbesserte. Wegen einer Verletzung aber verpasste der vom kürzlich verstorbenen Aimé Knepper trainierte Athlet die Spiele von Mexico 1968.

Seit der ersten Teilnahme von Luxemburger Sportlern an Olympischen Spielen (1912 in Stockholm) wurden genau 50 Leichtathleten, darunter zwölf sogenannte Mittelstreckler, selektioniert. Auf einen Nachfolger von Josy Barthel wartete das Land bisher vergebens. Vielleicht hat es ihn nun in der Person von Charles Grethen gefunden.