Zwischen nah und fern

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Doña Hanna kommt ursprünglich aus der Schweiz. Die 69-Jährige hat ihr Leben lang im sozialen Bereich gearbeitet und ist nun Rentnerin. Seit 13 Jahren besucht sie immer wieder den gleichen Ort in Guatemala, den sie eher zufällig über einen Freund kennenlernte. Dann lebt sie mit einer kleinen religiösen Gemeinschaft zusammen, die nach benediktinischen Regeln lebt. Diese besteht ausschließlich aus indigenen jungen Männern und einem Schweizer Bruder. So dient Cahabon im Norden des Landes ihr zusehends als zeitweiliger Wohnsitz, da Hanna fast die Hälfte des Jahres hier verbringt. Anne Schaaf hat mit ihr über Heim- und Fernweh gesprochen und vieles, was dazwischen liegt.

Wie würden Sie Ihren eigenen Status hier im Land beschreiben? Sind Sie eine Langzeiturlauberin, eine Touristin oder eine Teilzeiteinwohnerin?
Doña Hanna: Ich sehe diesen Ort als meine zweite Heimat an. Als einen Platz, an dem ich spüre, dass ich, eigentlich das erste Mal in meinem Leben, (außer in der Schweiz) in einem Land angekommen bin, in dem ich mich zu Hause fühle.

Ist es trotzdem eine Flucht von einer Welt in die andere?
Endgültig auswandern ist keine Option, denn ich habe meine Familie und Freunde in der Schweiz. Trotz allem fühle ich mich hier mehr zu Hause als dort. Das beschäftigt mich im Moment sehr und ich habe mich auch schon gefragt, ob es eine Flucht ist. Letztendlich halte ich es dennoch mehr für eine Art Angekommensein. Ich bin da angekommen, wo ich eigentlich schon als ganz junges Mädchen hinwollte. In eine spirituelle Welt, wo ich nah an mir, aber auch an meinem Glauben bin. Auf der Strecke von der Hauptstadt hierhin gibt es eine bestimmte Kuppe, wenn ich da mit dem Bus drüber fahre, dann spüre ich, dass ich zu Hause bin. Ich brauche keine Akklimatisierung, ich bin dann einfach wieder da. Die drei, vier Monate, die ich davor in der Schweiz verbracht habe, existieren zu dem Moment schon gar nicht mehr.

Was unterscheidet Ihren Aufenthalt von einem konventionellen Urlaub?
Für mich hat es sehr viel damit zu tun, ob und wie man „mit-lebt“. Gestern ist zum Beispiel die Großmutter eines Gemeinschaftsmitglieds gestorben. Wir fuhren alle gemeinsam in sein Heimatdorf, beteten zusammen für die Verstorbene und waren für ihn da. Zudem glaube ich, hier etwas bewirken zu können. Beispielsweise mehr Offenheit von meiner eigenen Seite aus zu erschaffen. Es ist nämlich nicht immer einfach, die hiesige Kultur zu begreifen, weil die Bevölkerung manchmal sehr hart wirkt, und das muss man erst mal verstehen lernen. Es wird nicht unbedingt gezeigt, dass man jemanden mag, weil das als Schwäche interpretiert werden könnte. Und schwach sein will hier niemand.

Teilen die Menschen, mit denen Sie zusammenleben, diese Auffassung?
Ich denke schon, dass ich mich hier in der Gemeinschaft nicht wie eine Touristin fühlen muss, weil sie mich akzeptieren und respektieren. Ich fühle mich dazugehörig. Letztes Jahr haben sie mir beispielsweise zum Abschied einen „Corte“ (Rock) sowie einen „Huipil“ (Oberteil), also die traditionelle Tracht für indigene Frauen, geschenkt. Außerdem sprechen sie oft davon, dass ich besser hier sterben und nicht in die Schweiz zurückkehren soll. Deswegen bin ich vielleicht zu einem bestimmten Teil Guatemaltekin, zwar keine indigene, aber trotzdem darf ich hier teilhaben.

Wenn Sie den Mikrokosmos verlassen, wie sieht es dann mit der Rezeption durch die hiesige Bevölkerung aus?
In Afrika habe ich mich wie eine absolute Exotin gefühlt, aber hier eigentlich nicht. Außer man hat das Gefühl, man wird ausgelacht und man versteht das Kekchí (eine der indigenen Sprachen) nicht. Aber dann hake ich schon auch nach.

Wie werden Sie von Ihren Mitmenschen in der Schweiz wahrgenommen mit diesem Lebensstil?
In der Schweiz fragen mich die Leute oft, wann und warum ich nach Guatemala zurückkehren werde und behaupten nicht selten, ich sei ein verrücktes Huhn. Gleiches widerfuhr mir, als ich vor 15 Jahren nach Kuba ging, um Spanisch zu lernen. Ich glaube, es war vor allem für meine Familie nicht immer ganz einfach, dass ich auf der Ebene so funktioniere, wie ich funktioniere. Hinzu kommt, dass ich mich manchmal mehr in der Schweiz als Außenseiterin fühle als hier. Ich mag es einfach nicht, nur über meine Kochkünste, die übrigens beileibe keine Künste sind, zu sprechen. Das ist ja in Ordnung für 15 Minuten, aber dann reicht’s auch. Ebenso wenig muss ich den lieben langen Tag über meine sechs Enkelkinder sprechen, obwohl ich diese sehr lieb habe. Manchmal denke ich, ich würde mich am liebsten hinter dem Ofen hocken, nur noch stricken und über so oberflächliche Dinge nachdenken, denn das wäre weniger mühsam. (lacht)

Welche Unterschiede bleiben trotz aller Akkulturation bestehen?
Ich kann reisen und herkommen, ich habe einen Pass. Der Unterschied wird immer da sein. Gewissermaßen bleibe ich stets ein kleines Stück weit Touristin aufgrund des temporären Visums, denn ich muss das Land ja spätestens nach drei Monaten wieder verlassen. Auch gibt es unbestreitbare Diskrepanzen auf der Ebene der finanziellen Möglichkeiten, aber ich versuche, so bewusst wie möglich damit umzugehen und sie nicht zu betonen. Obwohl ich hier gerne Näharbeiten verrichte, würde ich nie auf die Idee kommen, eine elektrische Nähmaschine zu kaufen. Die Anschaffung der alten Singer-Tretmaschine, die wir nun gemeinsam nutzen, war schon mit einem gewissen Kostenaufwand verbunden. Ich bringe auch ganz bewusst nichts mit, was die Menschen sich hier nicht leisten könnten und bei dem es auch nicht relevant ist, es zu besitzen.

Wie schaut es mit Fernweh und Heimweh aus?
Fernweh habe ich eigentlich nicht mehr, das hatte ich früher, als ich scheinbar nach etwas gesucht habe. Beim Heimweh ist das etwas anderes, das habe ich zwischendurch schon mal, vor allem, wenn meine Enkel oder Freunde Geburtstag haben, aber nicht so, dass ich dann hier die Koffer packen und gehen würde.

Kann man denn in Ihrer Situation auch Heimweh nach Guatemala haben?
Ja, das kann Frau. (lacht) Manchmal möchte ich gar nicht wahrhaben, dass es noch mehrere Monate dauert, bis ich wieder her kann. Dieses Mal hat zumindest den Vorteil, dass ich schon vor meiner Rückreise in die Schweiz weiß, wann ich wiederkommen werde, denn der nächste Flug ist bereits gebucht. Ich bin mir gewiss, dass ich hier erwartet werde und jemand sich freut, wenn ich komme.

Haben sich Ihre Definitionen der Begriffe Armut und Reichtum verändert, seit Sie das Land besser kennengelernt haben?
Eigentlich nicht. Ich war schon in Afrika sowie Indien und habe dort Armut miterlebt. Aber ich merke trotzdem, dass ich hier noch viel näher dran bin, an all dem, was Armut auch sein kann. Denn es gibt ja unterschiedliche Formen von Armut. Aber hier werden mir ebenfalls unterschiedlicher Reichtümer gewahr. Es gibt den Reichtum der Familie und des Zusammenhalts, was in Europa quasi nicht mehr existent ist. Auch spielt der Reichtum an Spiritualität, der bei uns verloren gegangen ist, eine große Rolle. Auf der Suche danach könnte man in der Schweiz förmlich verdorren. Und die hiesige Genügsamkeit empfinde ich als sehr bereichernd, vor allem gegenüber einer Situation, in der man glaubt, einen neuen Wagen anschaffen zu müssen, weil jenes des Nachbarn größer ist als das eigne.

Wie sehen Sie die Verbindung zwischen Glaube und Kultur in Guatemala? Ist sie eine Stütze für die Menschen?
Ich denke schon. Bereits in der Vergangenheit gehörten hier Natur und Mensch zusammen. Es werden Rituale vorgenommen, bevor etwas gesät wird. Das würde in Europa kaum einem in den Sinn kommen. Man spürt einfach, dass es dazugehört. Es wird sich auch ganz anders oder überhaupt mal bedankt. Was auffällt, ist, dass der Glaube hier wirklich stark in das Leben integriert ist. Und das ist in Europa ganz sicher nicht mehr der Fall.

Wie empfinden Sie die Stellung der Frau vor Ort? Und wie muss man vorgehen, wenn man mit dem europäischen Blick auf Frauenrechte in diese Situation hineinkommt?
Wenn wir ehrlich sind, können wir in Bezug auf die Perspektive, die wir einnehmen, auf eine gewisse Art und Weise nicht anders, aber ich denke trotzdem, dass ich meinen Blick zurücksetzen muss, um das Ganze sachlich betrachten zu können. Hier können Frauen nicht im Handumdrehen große Sprünge machen. Unsere Mütter mussten auch erst lernen, sich zu emanzipieren und sich selbst zu fragen: „Was will ich eigentlich?“ Man muss solchen Prozessen Zeit geben. Ganz sicher werden die Guatemaltekinnen nicht so lange brauchen wie wir. Wenn man beachtet, wie lange die Schweizerinnen kein Stimm- und Wahlrecht hatten, dann stehen einem ja die Haare zu Berge. Ich versuche immer, es mit einem Pendel darzustellen. Hier gibt es Feministinnen, die am Weltfrauentag dazu aufgefordert haben, dass sich alle Frauen violett anziehen, um ein Zeichen zu setzen. Erstens lesen ganz viele Frauen hier keine Zeitung und wussten dementsprechend nichts davon. Zweitens haben viele das nötige Geld nicht, um sich violette Kleidung zu kaufen, wenn sie nicht ohnehin welche besitzen. Und drittens würden sie die Inhalte nicht automatisch verstehen. Nichtsdestotrotz finde ich es gut, dass es hier Frauen gibt, die das Pendel bewegen.

Hallt der Bürgerkrieg noch nach?
Es sind jetzt schon einige Jahre vergangenen seit dem Genozid, viele halten sich bedeckt und sprechen eher nicht darüber. Er taucht manchmal auf, aber eher selten. Man muss sich gut und lange kennen, bevor eventuell mal ein Wort darüber fällt. Es kommt schon mal vor, dass, wenn man in einem Dorf ist, eventuell erwähnt wird, dass sich dort auch Massengräber befinden.
Ich muss aber dazu sagen, dass für mich als Schweizerin Krieg etwas schwer Greifbares ist. Meine Eltern haben nicht vom Zweiten Weltkrieg erzählt, weil er auf seine Art nicht existent war. Die Angst war wohl da, dass Hitler kommt und das Stachelschwein Schweiz auch noch einpackt, aber …

Haben Sie das Gefühl, dass Ihre bisher in Guatemala verbrachte Zeit Ihre Persönlichkeit verändert hat?
Die Gewerkschafterin, die ich mal war, die kann ich nicht ganz abstreifen, wenn ich das Gefühl habe, dass etwas falsch läuft, aber ich habe mich definitiv verändert. Ich bin nachdenklicher geworden, spirituell tiefer, ich hinterfrage meinen Glauben noch mehr als vorher und ich bin sicher dankbarer geworden für das, was wir haben, was viele aber gar nicht sehen.

Spielt Ihr Alter Ihrer Auffassung nach bei dieser Lebensetappe eine erhebliche Rolle?
Ich denke schon, dass das Alter eine Relevanz hat. Mir ist bewusst, dass ich bestimmten Tätigkeiten nicht mehr nachgehen kann, so realistisch bin ich, dass ich verschiedene Sachen nicht mitmache. Mein Hiersein ist sicherlich beschränkt vom Alter her. Ich weiß nicht, was in ein bis zwei Jahren ist oder ob ich noch fünf Jahre lang herkommen kann. Ich kann nicht einschätzen, wie lange meine Gesundheit noch mitspielt. Ich hoffe einfach nur, dass es noch eine Zeit lang klappt. Und falls ich hier sterbe, würde ich auch gerne hier begraben werden, denn es wäre absoluter Blödsinn, so viel Geld auszugeben, um einen toten Körper nach Europa zu fliegen, da kann man die hohe Summe definitiv anderswo besser einsetzen.