„Wut, Enttäuschung, Frustration“

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Die Briten in Luxemburg haben die Nase voll. Sie sind pro-europäisch und fühlen sich verraten. Welche praktischen Probleme sie haben und weshalb "Wut, Enttäuschung, Frustration" ihren Alltag prägen, erzählt Großbritanniens Botschafter in Luxemburg, John Marshall.

Die Briten in Luxemburg haben die Nase voll. Sie sind pro-europäisch und fühlen sich verraten. Welche praktischen Probleme sie haben und weshalb „Wut, Enttäuschung, Frustration“ ihren Alltag prägen, erzählt Großbritanniens Botschafter in Luxemburg, John Marshall.

Tageblatt: Sie wurden durch Ihre Videos bekannt. Wéi ass et mam Lëtzebuergeschen?

John Marshall: (antwortet fast akzentfrei) Et geet ëmmer besser. Ech hu mäin Exame gepackt. Niveau B1. Am Juni. A jo, ech schwätze bal all Dag e bësse Lëtzebuergesch. Heiansdo ganz laang … Dat heescht déi aner schwätze ganz laang an ech lauschteren no (lacht). Et gëtt och vill Evenementer, wou nëmme Lëtzebuergesch geschwat gëtt. Ech fannen, et ass ganz hëllefräich, Lëtzebuergesch ze verstoen.

Hat der Brexit einen Einfluss auf Ihre Karriere?

Der Brexit ist der Hauptbestandteil meiner Arbeit und wird es bleiben (lacht). Mein Job in Luxemburg ist für vier Jahre vorgesehen. Das würde also bis März 2020 heißen. Aber es gibt Szenarien, unter denen es ein Jahr länger dauert.

John Marshall ist seit 2015 Botschafter der Krone in Luxemburg. Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Wie viel Kontakt haben Sie mit den Briten in Luxemburg?

Ich rede viel mit britischen Bürgern über den Brexit. Es gibt verschiedene Formate und Events in Luxemburg, wo das passiert. Ich habe zum Beispiel beim „Christmas Lunch“ der britischen Handelskammer eine Rede gehalten. Das Ganze ist eine sehr unbeschwerte Veranstaltung. Ich rede auch viel mit den Mitgliedern von Brill („British immigrants living in Luxembourg“). Es gibt auch private Gespräche.

Wie empfinden die Briten in Luxemburg den Brexit?

Die überwältigende Mehrheit der britischen Gemeinschaft in Luxemburg ist gegen den Brexit. Es gibt noch sehr viel Wut, Enttäuschung, Frustration. Viele Expats konnten nicht wählen. Das Wahlrecht schloss Briten, die länger als 15 Jahre im Ausland leben oder gelebt haben, vom Referendum aus. Die Regierung will das ändern. Aber es geschah nicht rechtzeitig vor dem Referendum. Das frustriert viele Briten in Luxemburg.

Weshalb?

Die Briten in Luxemburg haben eine emotionale Beziehung zum Konzept von Europa: Viele von ihnen arbeiten für EU-Institutionen und leben seit 20 bis 30 Jahren im Großherzogtum. Es ist ihr Lebenswerk. Sie stellen sich Fragen wie: Hat es sich gelohnt? Andere sind einfach nur wütend.

Robert John Marshall

Robert John Marshall ist seit 1988 fürs britische Außenministerium tätig. Er war unter anderem Botschafter in Senegal, Kap Verde und Guinea-Bissau. Marshall ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Der Brite ist für seine Lauf-Begeisterung bekannt. Er läuft so ziemlich jeden Marathon, an dem er teilnehmen kann. Letztes Experiment: von Punkt X nach Y joggen und nächstes Mal bei Y weitermachen. Marshall hat mittlerweile das halbe Land durchjoggt und wurde am Ende seines Luxembourg Jogging von Österreichs Botschafter Gregor Schusterschitz nach seinem Lauf feierlich in ausgewählter Runde empfangen. John Marshall wird voraussichtlich bis 2020 in Luxemburg bleiben oder je nach Ausgang der Brexit-Verhandlungen bis 2021.

Welche Probleme stellen sich seit dem Brexit für die britischen Expats in Luxemburg?

Es gibt viele praktische Probleme. Die meisten hängen mit der Unsicherheit zusammen. Die Briten wissen, dass sie in einem gastfreundlichen Land leben. 48 Prozent der Bevölkerung sind Ausländer, 70 Prozent der Arbeitskräfte sind Grenzgänger oder Immigranten. Die luxemburgische Regierung hat die Briten beruhigt. Das hilft einerseits. Andererseits ist der Mensch nun mal, wie er ist.

Das heißt?

Bereits ein wenig Ungewissheit kann verschiedene Menschen aus dem Gleichgewicht bringen. Seit einem halben Jahr kann man den Menschen aber mit Blick auf den Brexit wenig Sicherheiten garantieren. Wir befinden uns aber jetzt in einer besseren Position, weil der Deal über die Bürgerrechte für EU-Bürger und Briten gut ist. 1,4 Millionen Briten leben in der EU, 6.000 davon alleine in Luxemburg. Dadurch sind viele Fragen für die Briten hierzulande beantwortet.

Welche?

Sie wissen, dass sie Zugang zu Gesundheitsdiensten und Sozialversicherungen haben. Sie können in Zukunft ihre Familienmitglieder nach Luxemburg bringen. Ich denke z.B. an Eltern oder die Großeltern usw. Das gilt auch für EU-Bürger, die in Großbritannien leben. Die Botschaft lautet weitgehend: Ihr könnt größtenteils so weiterleben wie bislang. Wir haben versucht, ein Problem zu lösen, aber die EU-Kommission wollte nicht mit uns darüber diskutieren. Das ist die Frage der Freizügigkeit. Gerade diese ist für Briten in Luxemburg ein wichtiges Anliegen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Es geht zum Beispiel darum, wenn ein Brite in Luxemburg nach Frankreich umziehen und dort leben will. Für einige Menschen dreht sich auch alles um die unbeantwortete Frage, ob sie ihren Lebensunterhalt so wie zum heutigen Zeitpunkt nach dem Brexit weiterbestreiten können.

Wenn sie innerhalb der EU Grenzgänger sind, in Frankreich leben und in Luxemburg arbeiten oder umgekehrt, ist das kein Problem. Wenn Sie aber selbstständig sind und Aufträge erhalten müssen, um eine Woche in Brüssel, eine weitere in Frankfurt usw. zu arbeiten, ist es noch nicht klar, ob das noch möglich ist. Das sind Dinge, die wir während der ersten Verhandlungsphase diskutieren wollten. Die EU-Kommission hat das aber anders gesehen.

Die Verhandlungsposition der britischen Regierung könnte kaum schlechter sein.

Wir haben noch nicht aufgegeben. Wir werden in der zweiten Runde der Verhandlungen darüber diskutieren.

Dennoch haben Sie doch überhaupt keine Verhandlungsbasis?

Wir wollen einen guten und ambitionierten Deal. Es gibt auch viele andere EU-Mitgliedsstaaten, die das auch wollen. Unternehmen auf beiden Seiten wollen auch weitermachen.

Die meisten Unternehmen haben doch gar keine Planungssicherheit, wenn sie auf Großbritannien setzen.

Ich habe vorhin über Einzelpersonen gesprochen. Das Gleiche gilt für Unternehmen: Sie mögen Unsicherheit nicht. Deswegen ist die Übergangsphase so wichtig. Es wird keinen abrupten Wandel am 30. März 2019 geben.

Es soll danach innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren alles so weiterlaufen können wie bislang. Die einzige Ausnahme wird sein, dass wir die EU verlassen haben werden. Das soll mehr Sicherheit verleihen.

Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Die britische Regierung kann den Unternehmen doch überhaupt keine Sicherheiten bieten. Sie wissen nicht, ob es bis Sommer 2018 Klarheit zwischen der EU-Kommission und Großbritannien geben wird.

Unternehmen müssen garantieren können, dass sie auch in Zukunft noch ihre Dienste anbieten können, die sie jetzt anbieten. Sie müssen planen und wurden auch bereits dazu ermutigt, ihre Planungen vorzunehmen. Einige dieser Unternehmen denken daran, Großbritannien zu verlassen oder ihre Tätigkeiten außerhalb Großbritannien auszuweiten. Für einige von ihnen erscheint Luxemburg als attraktivster Zielort. Dies scheint vor allem für Versicherungsunternehmen zu gelten. Und einige haben bereits angekündigt, sich hier niederzulassen. Das ist eine natürliche Konsequenz des Brexits.

Nochmals: Glauben Sie, dass die Unternehmen auf der Insel bleiben werden?

Wir sind zuversichtlich, dass Unternehmen in Großbritannien bleiben, wenn sie es können. London ist bei weitem das größte Finanzzentrum in Europa und ein globales Finanzzentrum. Die EU ist ein wichtiger Partner, wieso sollte man also gehen.

EU-Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier hat aber gesagt, dass egal welches Freihandelsabkommen keine Finanzdienstleistungen umfassen wird.

Man stelle sich vor, wir wären nie EU-Mitglied gewesen und man könnte jetzt plötzlich mit uns Handel betreiben. Welche Art von Beziehung würde die EU mit solch einem bevölkerungsreichen und innovativen Staat wollen? Sie würden eine enge Beziehung suchen (lacht). Ein Freihandelsabkommen ist das Ziel. Sie haben Michel Barnier zitiert. Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen haben noch nicht begonnen. Er hat noch kein Mandat der EU-Mitgliedsstaaten erhalten. Mal abwarten.

 

Die Brexit-Befürworter lassen nichts anbrennen. Die britische Presse versucht jetzt, die SREL-Affäre rund um EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu instrumentalisieren. Ihr Eindruck?

Um ehrlich zu sein, habe ich nicht sehr viel darüber gelesen. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass es in der britischen Presse aufgegriffen wurde. Aber das habe ich nur in Form von Zusammenfassungen wahrgenommen. Ich habe die genauen Artikel nicht gelesen. Es hat mich nicht wirklich gefesselt, den ganzen Artikel zu lesen. Ich muss auch ehrlich sagen, dass ich nicht glaube, dass diese Publikation auf dem Radar der britischen Regierung wahrgenommen wurde (lacht).

Dennoch: Die Brexit-Gespräche erinnern regelmäßig an kleine Schlammschlachten.

Es gibt so viel Lärm rund um die Verhandlungen, wie es sie bei allen großen internationalen Ereignissen gibt. Meine Botschaft ist deshalb stets: Den Lärm gibt es immer, dagegen kann man wenig tun. Aber man muss sich immer daran erinnern, dass auf beiden Seiten sehr fähige, ruhige Diplomaten am Werk sind, die stundenlang arbeiten und für beide Seiten ein gutes Resultat haben wollen.

Tageblatt-Chefredakteur Dhiraj Sabharwal im Gespräch mit dem britischen Botschafter John Marshall (rechts). Foto: Editpress

Der Brexit gefährdet auch die innere Sicherheit Großbritanniens. Sorgen Sie sich nicht um die Stabilität rund um Irland?

Irland ist eines der drei Hauptprobleme der ersten Verhandlungsphase. Wir haben schnell Fortschritte verbucht: Der Ausgang der Verhandlungen soll nicht das Karfreitagsabkommen gefährden. Das Gleiche gilt für die „Common Travel Area“ zwischen Großbritannien und Irland. Das Grenzproblem kann nur im Kontext einer größeren Diskussion gelöst werden.

Erkennen die Verhandlungspartner die Gefahr?
Ich glaube, jeder versteht, wie wichtig das Karfreitagsabkommen für den Frieden auf der Insel Irland ist.

Der Brexit hat nicht nur negative Seiten für Sie. China hofft auf eine „goldene Ära“ mit Großbritannien. Was halten Sie davon?

China hat viele Möglichkeiten in Sachen Business. Die Tatsache, dass wir die EU verlassen, wird uns verschiedene Möglichkeiten eröffnen, mit anderen großen Playern in der Welt zusammenzuarbeiten. Wir werden eine unabhängige Handelspolitik haben, die wir seit Jahrzehnten nicht mehr hatten.

US-Präsident Donald Trump gibt nichts auf traditionell gute Beziehungen. Wie viel sind Ihre transatlantischen Beziehungen noch wert?

Ich glaube nicht, dass sich hier etwas verändern wird. Die USA sind ein enorm wichtiger Partner für uns, was Wirtschafts- und Sicherheitsfragen betrifft. Die USA sind unser größter Exportmarkt, wenn man Einzelstaaten betrachtet. Die EU ist als Block betrachtet unser größter Markt. Unsere Beziehung mit den USA wird anhalten.

Großbritannien kuscht aber meist, wenn Washington gesprochen hat.

Wir waren nicht immer einer Meinung. Ich denke hier z.B. nur an den Internationalen Strafgerichtshof oder die Frage rund um Jerusalem im Rahmen des UN-Sicherheitsrats. Es wird immer wieder Meinungsverschiedenheiten geben, aber das Fundament unserer Beziehung bleibt bestehen und stark.

Wenn wir mehr mit China machen, spiegelt das lediglich wider, wie China sich entwickelt. Das Land wird offener, mächtiger, präsenter. So etwas bietet für alle Seiten interessante Möglichkeiten.