„Wir haben nicht fusioniert“

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Premier Xavier Bettel blickt auf das Jahr 2017 zurück und geht auf die Prioritäten für 2018 ein.

Keine Spur von Amtsmüdigkeit bei Premierminister Xavier Bettel. Der liberale Politiker möchte auch weiterhin die Regierung führen. Letztere steht immer noch als Mannschaft da. Der Frage nach einem entsprechenden Wahlkampf weicht er aber aus.

Xavier Bettel im Interview mit Lucien Montebrusco (Fotos: Julien Garroy)

Tageblatt: Ihr Rückblick am Ende des Jahres – was war das wichtigste Ereignis für Sie? Und was sind die Prioritäten für 2018?

Xavier Bettel: Es war eigentlich lediglich die Fortsetzung der zuvor begonnenen Arbeit. Vor vier Jahren hatten wir uns beispielsweise vorgenommen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Familienpolitik zu modernisieren. Wir haben jetzt den „Pappe-Congé“ geändert, die Gratis-Kinderbetreuung und vor kurzem Gratis-Schulbücher beschlossen. Zu den großen politischen Dossiers gehört die Reform des Rettungswesens und des Scheidungsgesetzes, dessen Reformentwurf sich nun auf dem Instanzenweg befindet. Für mich ist auch die Reform des Presseförderungsgesetzes von Bedeutung. Wir haben ja bereits eine neue Komponente, die Online-Medien berücksichtigt. Jetzt sind wir dabei, an der Reform des bestehenden Gesetzes zu arbeiten.

Aber gab es ein Dossier, das Sie hervorheben würden?

Ich will kein Dossier besonders hervorheben, möchte jedoch die Anstrengungen im Bereich Arbeitsmarkt unterstreichen. Wir sind jetzt bei 5,8 Prozent, haben bei 7,1 Prozent angefangen. Diese positive Entwicklung ist natürlich nicht ausschließlich auf die Regierung zurückzuführen, doch sie hat schon Ihres dazu beigetragen. Und da gibt es noch den Rifkin-Prozess, den wir angestoßen haben, und, was die Diversifizierung anbelangt, das Projekt Google. Schwer zu sagen, welches Projekt das wichtigste war. Es geht jedoch immer wieder um die Frage, wie es uns gelingen kann, ein Wachstum zu haben, das es uns erlaubt, die Lebensqualität zu erhalten, hohe Renten, gutes Gesundheits- und Schulsystem, eine gute Straßeninfrastruktur. In anderen Worten: Wie das Erfolgsmodell Luxemburg erhalten werden kann.

Es sieht jedoch nicht danach aus, dass bei der Frage qualitatives Wachstum große Fortschritte erzielt worden wären. Die Frage wird ja seit Jahren bereits diskutiert.

Ich kann diesen Begriff fast nicht mehr hören. Früher wurde das als Nachhaltigkeitsdebatte bezeichnet. So, als ob wir bisher ein destruktives Wachstum gehabt hätten. Wir hatten ein natürliches Wachstum und wir müssen es diversifizieren. Deshalb ist es wichtig, dass wir zusammen mit dem Wirtschaftsminister Betriebe hierzulande ansiedeln und jetzt im Rahmen von Brexit ein Reihe von Unternehmen in Luxemburg bekommen. Um das Wachstum zu managen, müssen wir auch die Infrastruktur planen. Statt bloß zu reagieren, muss man vorausschauend handeln, was diese Regierung auch gemacht hat.

Sie haben den Brexit erwähnt. Sind das viele Banken und Betriebe, die sich in Luxemburg niederlassen wollen?

In den letzten Monaten haben wir intensiv an diesem Dossier gearbeitet. Wir sehen, dass Unternehmen London verlassen haben. In Luxemburg haben sich etliche Versicherungsfirmen niedergelassen. Chinesische Banken kommen hierher. Wir stellen fest, dass der Brexit Konsequenzen für den Finanzplatz Luxemburg hat. Aber wir müssen bei den Brexit-Verhandlungen aufpassen. Kurzfristig haben wir etwas gewonnen, aber wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass mittelfristig, 2019, London sich nicht mehr an verschiedene Regeln halten muss. Deshalb ist es wichtig, dass wir ein „Level Playing Field“ behalten, damit unsere heutigen Vorteile morgen nicht verschwinden. Deshalb hatte ich mit dem französischen Präsidenten eine Diskussion über die Besteuerung der großen Internetunternehmen. Natürlich müssen die Steuern zahlen. Aber wir müssen darauf achten, dass ab 2019 die 27 EU-Ländern nicht weniger kompetitiv sind als Großbritannien und die USA und dass wir uns mittelfristig nicht schaden werden.

Was ja dann auch die Haltung Luxemburgs gegen den Vorschlag der EU-Kommission und ihres Präsidenten Jean-Claude Juncker zur Unternehmensbesteuerung erklärt.

Ich war etwas überrascht, als er sagte, das sei mein größter Fehler gewesen. Ich blockiere nicht. Wir sollten Europa jedoch nicht weniger kompetitiv machen als andere Länder. Ich verteidige damit nicht nur Luxemburg, sondern die europäische Ökonomie. In einem rezenten Fernsehinterview habe ich bereits gesagt, ich wünschte mir etwas mehr Diskretion seitens der Brüsseler CSV-Sektion.

Zurück nach Luxemburg. Die schlechten Umfrageergebnisse perlen an Ihnen vorbei. Stören sie das Betriebsklima in der Regierung nicht?

Ich nehme sie zur Kenntnis, aber sie beeinflussen nicht meine Politik.

Das heißt also auch, dass der Wahlkampf für Sie noch nicht begonnen hat?

Nein, ich bleibe Premier bis zum letzten Tag. Um Wahlkampf zu machen, brauche ich ein Wahlprogramm, wir sind dabei, dieses auszuarbeiten. Die Menschen sollen uns aufgrund der Ergebnisse unserer Arbeit urteilen und vor allem aufgrund unserer Pläne für die Zukunft.

Also noch keine Rivalitäten zwischen einzelnen Regierungsmitgliedern?

Nein, im Gegenteil. Wir sind eine Mannschaft. Es hat jeden überrascht, dass wir gemeinsam (mit Wirtschaftsminister Etienne Schneider) über Google kommuniziert haben. Das erklärt sich damit, dass dieses Dossier unsere Ressorts betrifft. Ich bin Kommunikationsminister, Etienne Schneider Wirtschaftsminister. Wir arbeiten gemeinsam daran. Unsere Verwaltungen arbeiten daran. Es gibt gemeinsame Arbeitsgruppen.

Es sah im Dossier Google aber so aus, als würden beide Seiten versuchen, die Decke zu sich rüberzuziehen.

An diesem Dossier beteiligt waren auch das Landwirtschafts- und das Umweltministerium. Aber den Lead hatten Etienne Schneider und ich. Wir hatten in den letzten Jahren beide Kontakte zu Google.

Gilt das auch für das Projekt Space Mining?

Nein, das ist etwas anderes. Es ist natürlich eine Regierungsinitiative. Aber hier geht es um die wirtschaftlichen Folgen. Ich verantworte den Satellitenbereich, aber für wirtschaftliche Aktivitäten im Weltraum ist das Wirtschaftsressort zuständig. In diesem Dossier ist also das Wirtschaftsministerium federführend. Die Zeiten von „das hier ist deins, das ist meins“ sind vorbei. Wir wollen die Dinge vorwärtstreiben. Wenn ich von der digitalen Welt rede, brauche ich einen Arbeitsminister, einen Unterrichtsminister und andere Minister.

Vor kurzem hat CSV-Fraktionschef Claude Wiseler in einem Tageblatt-Interview kritisiert, Sie würden die Regierung nicht richtig leiten. Minister würden in der Öffentlichkeit unterschiedliche Standpunkte vertreten.

Mir ist es eigentlich ziemlich egal, was Herr Wiseler denkt. Seine Kritik lässt mich kalt. Ich bin ein Mannschaftsspieler. Und ich leite diese Mannschaft dementsprechend. Und ich habe ein Koalitionsabkommen. Da steht, wozu ich mich engagiert habe, in fünf Jahren umzusetzen. Aber alles, was nicht drin steht … Der Einzelne mag seine Ideen haben … Auch ich habe meine, die anders sind als die von der LSAP oder den Grünen. Jeder kann seine Meinung haben. Aber die ist nicht Bestandteil des Koalitionsabkommens. Niemand hat bisher gegen das Koalitionsabkommen geredet.
Ich akzeptiere, wenn ein Minister im Namen seiner Partei eine andere Ansicht vertritt. Wir haben ja nicht fusioniert. Ein Grüner oder ein LSAP-Mitglied muss ja die Politik seiner Partei verteidigen können. Alles, was nicht im Koalitionsabkommen steht, kann während der kommenden Wahlkampagne diskutiert werden. Die CSV versucht Streit zu finden, wo keiner ist.

Apropos CSV. Wie schätzen Sie deren Oppositionsarbeit?

Die letzte Episode, die ich jetzt erlebt habe, betrifft den Gesetzentwurf über die Reform des Wahlgesetzes. Es ging ja darum, die Legislativwahlen terminmäßig von den Kommunalwahlen zu trennen. Sie (die CSV) hat dagegen gestimmt, bloß um dagegen zu sein. Das hat mich enttäuscht. Es ist schwierig zu wissen, für was die CSV steht.

Sie können mit der aktuellen CSV nichts anfangen?

Der Wähler muss verstehen, was die CSV will. Ich werde meinerseits meine Vorschläge für Luxemburg unterbreiten. An den Wählern zu entscheiden, ob das, was die CSV vorschlägt, das ist, was sie wollen.

Wie erklären Sie sich den Widerspruch, dass es dem Land Ihren Aussagen zufolge heute besser geht, die Menschen aber laut Umfragen einen Regierungswechsel wollen. Ist das eine Frage von Personen?

Mit dem „Zukunftspak“ haben wir jeden erbost und haben fast jeden gegen uns aufgebracht. Etienne Schneider meint, man hätte gezielter vorgehen müssen … Aber es gab keine andere Möglichkeit. Die Zahlen sprechen für sich. An uns, in den kommenden Monaten zu erklären, warum diese Politik notwendig war.

Das klingt aber irgendwie seltsam. Zuerst greift die Regierung mit dem „Zukunftspak“ den Menschen in die Tasche, dann gibt sie ihnen via Steuerreform etwas zurück.

Es gibt mehrere Erklärungen dafür. Eine davon betrifft das dreifache A, das Triple A, das unter anderem erklärt, warum sich chinesische Banken in Luxemburg niedergelassen haben. Wir waren dabei, dieses Triple A zu verlieren. Das sagen nicht wir, sondern internationale Organisationen und Studien. Hätten wir das verloren, würde sich die Situation heute ganz anders darstellen. Wir mussten damals reagieren, wir hatten eine gefährliche Schuldenspirale. Selbstverständlich hat uns auch die Konjunktur geholfen, dass es in die gute Richtung ging. Triple A bedeutet, dass wir Darlehen zu besseren Konditionen bekommen. Es sagt etwas über die Güte der öffentlichen Finanzen aus. Es war wichtig, so zu handeln.

Und Sie hoffen, die Stimmung im Land in den kommenden zehn Monaten kippen zu können?

Ich gehe in die Wahlen, weil ich motiviert bin, weiterzumachen, was wir begonnen haben. Ich gebe als Beispiel nur die Reform des Abtreibungsrechts. Vor wenigen Jahren noch musste eine Frau einer wildfremden Person erklären, warum sie die Schwangerschaft abbrechen wollte. Wir haben das Land modernisiert. Wir sind von allem möglichen grauen und schwarzen Listen verschwunden. Ich hatte keine besonders angenehme Zeit, als die LuxLeaks-Affäre ausbrach. Ich musste mich mit einer Vergangenheit auseinandersetzen, die ich geerbt habe. Wir stehen heute besser da als vor vier Jahren, wir sind vor allem stabiler geworden. Manche wollten, dass wir mehr verteilen. Natürlich kann man das Geld anders als für die Infrastruktur verwenden, aber das wäre eine versteckte Schuld zulasten der zukünftigen Generationen.

Wenn die Koalition so manch Positives vorweisen kann, warum gehen die drei Parteien nicht geschlossen in die nächsten Wahlen?

Die Idee eines Links- und Rechtsblocks gefällt mir nicht. Ich fühle mich eher einem Zentrumsblock nahe. Ich bin für eine Sozialpolitik, um die Menschen aus prekären Situationen herauszuführen. Aber ich möchte auch die Privatinitiative fördern, damit die Menschen Lust haben, Verantwortung zu übernehmen. Der Staat darf die Menschen nicht ein Leben lang an der Hand führen. In gesellschaftspolitischen Fragen bin ich womöglich weit stärker links als andere.

Aber derlei Politik kann man ja mit einer LSAP und „déi gréng“ umsetzen?

Ja, aber ich habe Probleme etwa mit der 35-Stunden-Woche, siehe Frankreich. Oder das Thema Mindestlohn. Ich habe nichts gegen eine Anhebung desselben, aber zuerst muss man wissen, welche Folgen dies haben wird. Herr Fayot (LSAP) fordert eine Erbschaftssteuer. Ich bin dagegen. Es gibt Punkte, wo wir uns unterscheiden. Ein anderes Beispiel: der Erhalt der Bausubstanz. Einerseits muss man einzelne Gebäude erhalten, andererseits haben wir Wohnungsmangel. Es gibt viele Schnittstellen zwischen unseren Parteien, was uns erlaubt hat, zusammenzuarbeiten. Andererseits kenne ich die Wahlprogramme der anderen noch nicht.

Kann man sich aber in naher Zukunft eine Erklärung der drei Parteien erwarten, dass sie zusammen weitermachen wollen? Es wäre ja eine Frage von Ehrlichkeit gegenüber dem Wähler. Ihnen war ja 2013 vorgeworfen worden, bereits im Vorfeld die Dreierkoalition geschmiedet zu haben …

Das Problem ist ja nicht, ob man etwas im Voraus abgemacht hat. Die Frage ist, dass niemand mehr mit der CSV konnte. Am Wahlabend bei RTL gaben mir Leute der CSV wortwörtlich zu verstehen: Wir sagen dir, was du bekommst. Soll man so in Koalitionsverhandlungen gehen? Sie hatten sich mit der SREL-Affäre so ins Abseits gesetzt, dass es nicht mehr anders ging, zumal sie keine Fehler eingestehen wollten. Es war ja so, dass während sechs bis acht Monaten die alte Koalition nicht gearbeitet hat, weil zwischen Roten und Schwarzen nichts mehr ging. Es ist ja nicht so, dass wir geplant hätten, wie man die Macht übernehmen könne. Es war einfach nichts anderes drin.

Aber die CSV von heute ist ja nicht mehr die der CSV-Sektion Brüssel.

Ich habe persönlich keine Probleme mit Claude Wiseler. Aber ich muss wissen, was diese Partei will. Derzeit ist es schwer, das zu wissen. Beispiel Mindestlohnerhöhung: Herr Spautz sagt Ja, Herr Mosar sagt Nein. Stock Options: Herr Roth sagt Nein, Herr Mosar sagt Ja.

Wenn ich Sie richtig verstehe, wären Sie auch in einer anders gearteten Koalition, mit der CSV etwa, dabei, auch wenn Sie nicht mehr Premierminister wären?

Ich liebe meine Arbeit und ich bin motiviert. Es geht jedoch um politische Inhalte. Wenn es aber nur um einen Ministerposten geht und dabei meine politischen Überzeugungen zu kurz kommen, dann nein.