Impfstoffstreit / Wenn es gegen EU-Exportkontrollen geht, ruft Johnson nach internationaler Kooperation
Großbritannien wendet sich gegen die angekündigten Exportkontrollen der EU. Dafür begibt sich Boris Johnson nun auf Charmeoffensive. Es geht um viel.
Mit einer Charmeoffensive bei wichtigen Partnerländern will Boris Johnson die geplanten EU-Exportbeschränkungen für Covid-Impfstoffe verhindern. Der Premierminister werde sich telefonisch an eine Reihe von Staats- und Regierungschefs wenden, hieß es am Montag aus der Downing Street. Man sei mit derselben Pandemie konfrontiert, argumentierte der konservative Regierungschef beim Besuch einer Rüstungsfabrik im englischen Nordwesten. Die Entwicklung und Verteilung neuer Impfstoffe sei ein internationales Projekt. „Und solche Projekte bedürfen internationaler Kooperation.“
Der selbst am vergangenen Freitag mit dem AstraZeneca-Wirkstoff geimpfte Premierminister hat bereits mit seinen Kollegen in Belgien und den Niederlanden, Mark Rutte und Alexander De Croo, gesprochen. Beide gelten als Skeptiker des EU-Vorhabens. Auf seiner Telefonliste dürften die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ganz oben stehen. Von den beiden größten EU-Ländern heißt es in London, sie stünden dem geplanten Boykott aufgeschlossen gegenüber.
Das wäre ein sehr rückwärtsgewandter Schritt. Wenn wir damit anfangen, sind wir in Schwierigkeiten.der irische Regierungschef stellt sich gegen das EU-Vorhaben
Der irische Regierungschef Michael Martin hat sich bereits vehement gegen Exportbeschränkungen ausgesprochen. „Ich bin sehr dagegen, ich denke, es wäre ein sehr rückwärtsgewandter Schritt“, sagte Martin dem irischen Rundfunksender RTÉ am Montag. Es sei von elementarer Bedeutung, die Lieferketten nicht zu unterbrechen. Andere Länder könnten sonst nachziehen. „Wenn wir damit anfangen, sind wir in Schwierigkeiten“, so Martin.
Im Vereinigten Königreich haben bis einschließlich Samstag 42,7 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Dosis gegen die Ansteckung mit Sars-CoV-2 erhalten, darunter mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung. Bei den über 70-Jährigen lag die Impfquote bei 95 Prozent. Hingegen sind in der EU bisher weniger als 12 Prozent geimpft; allerdings liegt dort die Rate jener höher, die bereits beide Dosen der Wirkstoffe von Biontech/Pfizer oder AstraZeneca erhalten haben.
EU exportiert, es kommt aber nichts zurück
Auf der Insel hat die Erleichterung über das reibungslos laufende Impfprogramm des Nationalen Gesundheitssystems NHS die Erinnerung an eine Vielzahl katastrophaler Fehler der Regierung überlagert. Der Jahrestag des ersten, viel zu spät verfügten Lockdown an diesem Dienstag erinnerte die Briten an ihre schlimme Bilanz: Der Statistikbehörde ONS zufolge beklagt das Land inzwischen mehr als 147.000 Corona-Tote, darunter mehr als die Hälfte in der zweiten Welle seit September, als Johnson erneut viel zu lang mit wirksamen Gegenmaßnahmen zögerte.
Pro Million Einwohner sind nach der konservativeren Zählung des Gesundheitsministeriums bis Sonntag mindestens 1.851 Covid-19-Patienten gestorben (Luxemburg 1.134, Deutschland 896, Österreich 1.005, Schweiz 1.176); europaweit meldet kein vergleichbar großes Land ähnliche Todesraten. Auch brach die Wirtschaft im vergangenen Jahr mit 9,9 Prozent so schlimm ein wie in keinem anderen G7-Land.
Gerät die angekündigte wirtschaftliche Erholung nun durch die angedrohten Maßnahmen ins Wanken? Die 27er-Gemeinschaft erwarte Gegenseitigkeit, hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärt und darauf verwiesen, dass aus den Produktionsstätten der Mitgliedsländer 41 Millionen Dosen exportiert worden sind, darunter 10 Millionen auf die Insel; die Liefermenge auf dem umgekehrten Weg über den Ärmelkanal beträgt null.
Wieder Zorn auf AstraZeneca
Der Zorn richtet sich wieder einmal besonders gegen das britisch-schwedische Unternehmen AstraZeneca; dessen Liefermengen für den an der Uni Oxford entwickelten Wirkstoff AZD1222 blieben im ersten Quartal 2021 um 70 Prozent hinter den Brüsseler Erwartungen zurück. Die Firma hat stets argumentiert, man habe gegenüber der EU eine Absichtserklärung (best effort) abgegeben, nicht aber bestimmte Liefermengen vertraglich zugesichert. Dass man Großbritannien zuverlässig und in großer Menge beliefere, sei der großzügigen Förderung durch London geschuldet, die sich sowohl auf die Entwicklung des Impfstoffes wie auf die nötige Expansion der Lieferkette erstreckte.
Die Zahlen über Importe und Exporte werden in London nicht bestritten. Ausdrücklich weichen Johnson und seine Minister allen Fragen nach möglichen Sanktionen für Brüsseler Strafmaßnahmen aus. Allerdings herrscht kopfschüttelndes Erstaunen über die Art und Weise, wie nationale Arzneimittelaufseher in den vergangenen 14 Tagen vermeintliche Risiken von AZD1222 breittraten und dadurch die laufenden Impfprogramme verzögerten. Frankreich hatte beispielsweise zunächst AstraZeneca nur an Menschen unter 65 Jahren verimpft. Derzeit lautet die Maßgabe, der Wirkstoff komme nur für Impfwillige über 55 Jahre infrage.
Würde überhaupt jemand profitieren?
Am Montag bestätigte eine US-Studie mit 32.449 Freiwilligen in den Vereinigten Staaten, Peru und Chile bisherige Erkenntnisse über das vergleichsweise günstige Medikament. Das Risiko einer symptomatischen Covid-Infektion ging gegenüber der Vergleichsgruppe um 79 Prozent zurück, schwere Erkrankungen wurden sogar zu 100 Prozent reduziert.
Dem Londoner Pharma-Informationsdienst Airfinity zufolge würde die Verweigerung der Export-Lizenz für den im holländischen Leiden ansässigen AZD1222-Produzenten Halix das britische Impfprogramm höchstens um eine Woche zurückwerfen. Schwerwiegender wäre ein Verbot der Lieferung von Biontech/Pfizer-Dosen. „Aber die EU würde davon nur unwesentlich profitieren“, argumentiert Airfinity-Chef Rasmus Bech Hansen mit Blick auf die mehr als 400 Millionen Bürger im Brüsseler Klub. „In Wirklichkeit würden alle verlieren.“
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