BrexitWarum ausgerechnet die wirtschaftlich unbedeutende Fischerei einem Vertrag im Weg steht

Brexit / Warum ausgerechnet die wirtschaftlich unbedeutende Fischerei einem Vertrag im Weg steht
Harter Job: Ein französischer Fischer im Ärmelkanal – bei der Fischerei steht für Brüssel und London viel auf dem Spiel Foto: AFP/Nicolas Gubert

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Die Fischerei ist für Großbritannien eigentlich unbedeutend. Trotzdem könnte sie mit darüber entscheiden, ob es zu einem Handelsvertrag mit der EU kommt. Das hat mit Nostalgie zu tun. Und mit dem Druck eines fast schon vergessenen Rechtspopulisten.

Im langwierigen Brexitprozess sind schon viele vermeintlich endgültige Termine gekommen und gegangen. So dürfte es auch jener Parole gehen, die der britische Premierminister Boris Johnson Anfang September ausgab: Sollte bis zu dem am Donnerstag beginnenden EU-Gipfel der Vertrag über die künftige Wirtschaftszusammenarbeit nicht unterschriftsreif vorliegen, müsse man eben ohne Deal auseinandergehen. „Unser Land wird in jedem Fall prosperieren“, tönte der konservative Politiker. Nüchterner drückt es die deutsche Kanzlerin und derzeitige EU-Ratspräsidentin Angela Merkel aus: „Unglücklicherweise“ müsse man auch für den No Deal gewappnet sein.

Bei Johnsons Videokonferenz mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen echoten die Beteiligten hingegen am Mittwoch die jüngsten optimistischen Töne ihrer Chefverhandler David Frost und Michel Barnier: Der angestrebte Freihandelsvertrag sei immer noch möglich, aller Skepsis auf beiden Seiten des Ärmelkanals zum Trotz. Der Franzose hat stets Ende Oktober als Termin genannt, inzwischen wird sogar noch die erste Novemberwoche in die Diskussion gebracht. Bis zur Ratifizierung eines Vertrages durch das Unterhaus auf der einen Seite und EU-Parlament sowie nationalen Volksvertretungen auf dem Kontinent dürfe den Kritikern nicht zu viel Zeit bleiben, heißt es in der Downing Street.

Zu viel steht auf dem Spiel, für beide Seiten. Immer drängender werden die Zurufe von Industrie, Handel und Tourismus: Einigt euch! Ein Vertrag sei schon deshalb nötig, glaubt Carolyn Fairbairn vom Industrieverband CBI, „damit im zukünftigen Verhältnis Dynamik herrscht“. Schließlich müsse nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus Binnenmarkt und Zollunion auf vielen anderen Gebieten die Zusammenarbeit weitergehen, etwa bei Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung, beim Datenschutz und gemeinsamen außenpolitischen Interessen.

Britische Fischer brauchen die EU

Nach wie vor scheinen zwei wichtige Bereiche ungeklärt: die Angleichung von Staatshilfen für Unternehmen, die in Bedrängnis geraten sind, sowie die zukünftige Aufteilung der reichhaltigen Fischbestände rund um die britischen Inseln. Misstrauen herrscht auf dem Kontinent gegenüber London auch in der Frage der zukünftigen Behandlung Nordirlands. Dass die Tory-Regierung im Fall eines No Deal den Austrittsvertrag und damit das Völkerrecht brechen will, hat vielerorts Empörung ausgelöst. Zu Monatsbeginn begann die EU-Kommission deshalb einen Klageprozess gegen das frühere Mitglied. Allerdings hat der zuständige Kabinettsminister Michael Gove signalisiert, man werde die anstößigen Klauseln aus dem derzeit im Oberhaus verhandelten Gesetz entfernen – wenn es denn zum Deal kommt.

Kurioserweise steht dem nötigen Kompromiss aufseiten Londons vor allem die Fischerei im Weg. Das hat kaum wirtschaftliche Gründe: Der Sektor trägt gerade mal 0,12 Prozent zum britischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. Die verbliebenen 8.000 Berufsfischer sind stark vom Handel mit dem Kontinent abhängig: Von ihren jährlich angelandeten rund 450.000 Tonnen Fisch werden 70 Prozent entweder frisch oder als Konserve in die EU exportiert. Käme es wirklich zum chaotischen Austritt und Streit mit der EU, wären zudem die rund 15.000 Angestellten in den Fischfabriken Nordenglands betroffen. Sie verarbeiten importierte Schollen und Kabeljau von norwegischen und isländischen Booten, auch ihre Produkte landen weitgehend im Export.

Aber der Beruf des Fischers ist im Bewusstsein der maritimen Nation verankert. Noch immer sendet die BBC täglich den Wetterbericht für die Seefahrt rund um die Insel – für drei Minuten träumen sich Millionen von Briten, die meisten von ihnen Landratten ohne jeden Bezug zur See, aus ihren Vorstadt-Reihenhäuschen aufs Meer hinaus und lassen sich die imaginäre Gischt ins Gesicht spritzen.

Mit dieser Emotion wusste Nigel Farage stets zu spielen. Mittlerweile lauert der Nationalpopulist auf die Chance, vom „Verrat am Brexit“ sprechen zu können; eine Nachfolge-Organisation seiner Brexit-Partei könnte den Konservativen gefährlich werden. Man werde „keine Kompromisse machen“, tönen Johnsons Sprecher deshalb gern, schließlich sei die britische Haltung „entscheidend für ein unabhängiges Land“.

In die ökonomischen Erwägungen über den vergleichsweise winzigen Sektor – Spötter vergleichen dessen Bedeutung mit Londons Nobel-Kaufhaus Harrods, das jährlich zwei Milliarden Pfund (2,2 Mrd. Euro) umsetzt – mischen sich die Sorgen der Umweltbewussten. Eine Initiative von Greenpeace will Fabrikschiffe von mehr als 100 Metern Länge aus jenen britischen Gewässern verbannen, die besondere Artenvielfalt vorweisen können. Betroffen wären vom Fangverbot vor allem jene gewaltigen schwimmenden Lebensmittelfabriken, denen täglich Hunderte Tonnen Fisch in ihre bis zu 1,5 Kilometer langen Netze gehen, wie Jeremy Percy von der Lobbygruppe NUTFA weiß.

Beide Seiten müssen „Sieg erklären“ können

Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Betroffenen, nebelhornartig verstärkt vom Brexit-Vormann Farage, am Ende doch von Verrat reden. Der Handelsexperte Shanker Singham, ein Regierungsvertrauter, sieht aber durchaus einen möglichen Kompromiss, denn: „Das Königreich braucht ausländische Fischer in seinen Gewässern.“ Tatsächlich könnte die kleine britische Fangflotte etwaige großzügigere Quoten bei den rund 100 zur Debatte stehenden Fischarten gar nicht ausschöpfen. Umgekehrt brauchen die kontinentalen Anrainer des Ärmelkanals sowie andere wichtige Fischereinationen wie Spanien und Portugal eine längere Übergangsfrist; besonders der französische Präsident Emmanuel Macron muss heftige Reaktionen der strukturschwachen küstennahen Regionen fürchten. Am Ende müssen beide Seiten „einen Sieg erklären“ können, glaubt Singham.

Ähnlich wie bei der Fischerei sieht Sam Lowe vom Londoner Thinktank CER auch bei Staatshilfen einen gangbaren Weg. Brüssel sei von der Maximalforderung, Staatshilfen sollten wie bisher gehandhabt und sanktioniert werden, abgerückt; nun ist nur noch davon die Rede, Londons eigene Regeln müssten „dem gleichen Ziel“ dienen. Wie dies überwacht werden kann, ohne den bei Brexiteers verhassten Europäischen Gerichtshof einzubeziehen, dürfte eine der verbliebenen Schwierigkeiten sein. Bis zum Monatsende steht noch viel Arbeit bevor.