Unterwegs in Guatemala

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In der Republik Guatemala, die gleichzeitig auch der bevölkerungsreichste Staat in Zentralamerika ist, leben auf rund 110.000 Quadratkilometern mehr als 15 Millionen Menschen. Aufgrund der bewegten Geschichte des Landes lässt sich kein einheitliches Bild zeichnen. Es entstanden tiefe Risse in dem facettenreichen Patchwork-Teppich, der nun vorsichtig wieder zusammengeflickt werden muss. Dies zeigt nicht zuletzt auch die Hauptstadt Guatemala City, die erste Reisestation unserer Redakteurin Anne Schaaf.

Manche Reisewarnungen lesen sich wie Unheilsverkündungen und haben somit wenig Einladendes. Das, was das Auswärtige Amt an Informationen zu Guatemala bereithält, klingt so, als sei das zentralamerikanische Land ein Garant für Mord, Totschlag und Chaos jeder Art. Als die Konquistadores 1513 in das Gebiet zwischen dem heutigen Mexiko, Honduras, Belize und El Salvador einmarschierten, gab es derartige Warnungen natürlich nicht. Und sie hätten die Eroberer wohl herzlich wenig interessiert, zumal Letztere mehr Teil des Problems als der Lösung waren und man eigentlich vor allem vor ihnen hätte warnen müssen.

„Es gibt Menschen, die lesen so etwas, und andere, die lassen das ganz einfach bleiben und kommen her, um sich selbst ein Bild zu machen“, erklärt Nico, der alljährlich einige Monate hier verbringt, weil ein Teil seiner Familie seit jeher in Guatemala lebt. Da seine Mutter aus den Vereinigten Staaten stammt und sein Vater Guatemalteke ist, bezeichnet man ihn als „Ladino“. Dieser Teil der Bevölkerung zeichnet sich durch die Verschmelzung von einheimischen und anderen Nationalitäten aus. (Den anderen Teil stellen viele unterschiedliche indigene Gruppen dar, die in einem weiteren Artikel eine wichtige Rolle spielen werden.)

„Eigentlich ist es praktisch, dass manche sich vorschnell abschrecken lassen, denn solange nicht jeder weiß, wie schön es hier ist, können wir die Situation noch genießen“, meint Nico lächelnd. Er sollte recht behalten, aber dazu später mehr.

Facettenreich

Als mein Flieger am frühen Abend in Guatemala City landete, zeigte sich mir entgegen der Ängste schürenden Verlautbarungen eher eine verschlafene, durchaus geordnete und saubere Metropole. Ich konnte mir ein Schmunzeln beim Erblicken der sogenannten „Torre del Reformador“ nicht verkneifen, da es sich hier um den halbwegs netten Versuch eines Nachbaus des Eiffelturms handelt.

Da hatte sich wieder mal ein mächtiger Mensch, bescheiden wie er war, selbst ein Denkmal gesetzt. Die Stahlkonstruktion wurde zu Ehren von Justo Rufino Barrios errichtet. Dieser steht zwar einerseits für die liberale Revolution des Landes in den 1870ern und als späterer Präsident setzte er wichtige Reformen durch, anderseits ist er für seinen autoritären Regierungsstil bekannt, durch den viele das Land verließen oder ins Exil flüchteten.

Verglichen mit einigen anderen ständig wechselnden Herrschern, die in den Folgejahren mehr darauf bedacht waren, sich selbst zu bereichern oder hauseigene kleine Diktaturen zu errichteten, war er wahrscheinlich noch ein Wonneproppen, aber nach derartigen Maßstäben soll und kann man in Guatemala nicht messen.

Denn ob man nun durch Kolonialherren, Ausländer mit ausschließlich wirtschaftlichen Interessen, totalitäre Präsidenten oder während eines 36-jährigen (1960-1996) Bürgerkriegs stirbt, tot ist man in allen Fällen und gut tut das nicht. In einem Land, das derart viele negative Erfahrungen mit Menschen von außen (und innen) gemacht hat, könnte man vermuten, dass man nicht mit offenen Armen empfangen wird. Aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein.

Dementsprechend blieben auch am Folgetag die Schockmomente aus. Als Europäer wirkt man zwar ein klein wenig wie ein Exot, aber die Blicke, die sich auf einen richten, scheinen zumindest meinem Empfinden nach eher von Neugier zu zeugen. Sehr erfrischend, überhaupt Blickkontakt aufnehmen zu können, statt wie häufig in Luxemburg durch Gassen zu schreiten, in denen so gut wie jeder mit gesenktem Kopf, den frustrierten Blick auf die glänzenden Luxuslatschen gerichtet, an einem vorbeilief.

Ein älterer Straßenkünstler lächelte mir zu und sprach ein ehrlich gemeintes und uneigennützig daherkommendes „welcome to our country“, als er mich sah. Bei einer kleinen Plauderei ergab sich dann, dass er sogar weiß, wo Luxemburg ist. Er teilte sich den Bürgersteig mit etlichen anderen (Über-)Lebenskünstlern.

Händler versuchen möglichst viel Krimskrams lautstark an den Mann oder die Frau zu bringen. Kinder werden geschminkt, während Erwachsene sich temporäre Tattoos aufmalen lassen.

All dies sind keine Touristenattraktionen. Im Zentrum tummelt sich eine sehr heterogene Masse, die sich unabhängig von Alter und Herkunft bei den heißen Temperaturen dabei abwechselt, das gerade gekaufte Eis auf die eigenen Füße purzeln zu lassen. Neben dem jungen Guatemalteken im Iron-Maiden-T-Shirt, der am Strohhalm des Fast-Food-Drinks nuckelt, geht eine ältere Dame in traditionellem Corte, einem farbenfrohen Rock, vorbei und versucht, mit ihrem Enkel Schritt zu halten. Ganze Familien rennen sich an den Händen haltend zur plaza de la Constitucion, um zur wöchentlichen religiösen Prozession zu gelangen, die bis Ostern den Alltag in der Stadt mitzeichnet.

Armut betrifft jeden Zweiten

In dem Getümmel tauchen jedoch immer wieder ausgestreckte Hände auf. Viele der bettelnden Menschen sind alt, stellen Verstümmelungen zur Schau und machen auf ihre Behinderung aufmerksam. Auch Kinder befinden sich darunter. Die Rezeption dieser Mitglieder der Gesellschaft kann nicht eindeutig eingeordnet werden, es fällt jedoch auf, dass die Quetzales, die nationale Währung, schneller rollen, wenn eine Bitte um Geld mit einer Darbietung verbunden ist.

Armut ist längst kein Randphänomen, sie betrifft die Hälfte der Einwohner des Landes. Auch nach den Schreckensjahrzehnten und dem Friedensvertrag 1996 liegen große Teile des Besitzes in wenigen Händen reicher, mächtiger und nicht selten korrupter Eliten. Ein struktureller Wechsel lässt sich nur erahnen – zu oft wurde das Land durch Machtmissbrauch zurückgeworfen.

Die Haupteinkaufsstraße Avenida 6 in der Zona 1, dem alten, dicht bebauten Kerngebiet der Stadt, gibt ein modernes Bild ab, das aber auch koloniale Tupfer aufweist. Internationale Ketten säumen den Straßenrand – und doch ist es zu Beginn gewöhnungsbedürftig, dass diese häufig von bewaffneten Sicherheitskräften bewacht werden.

Ein nicht unerhebliches Maß an Kriminalität lässt sich nicht leugnen, jedoch wird zu selten nach den eigentlichen Ursachen hierfür gefragt. Wenn man dann einige Straßen weitergeht, können wenige Schritte eine wahre Zeitreise bedeuten. Dann tauchen guatemaltekische Tante-Emma-Läden, nämlich die „Tiendas“, auf, in denen Getränke, Süßigkeiten, Zigaretten und Kosmetikprodukte verkauft werden. Die weisen weniger Sterilität auf als die großen Einkaufszentren. Es hat etwas von einem einzigartigen geordneten Chaos.

Die Bürgersteige sind weniger überlaufen, bevölkert werden sie vor allem von Frauen, die lokale Spezialitäten und Knabberei feilbieten. In dieser Gegend dominieren nicht selten ältere Frauen mit Lotterielosen das Stadtbild. Beim Vorbeigehen fragt man sich, ob dies ein kleines Stück Hoffnung in Papierform ist, das die Chance auf ein anderes Leben bereithalten könnte.