Getreidestreit / Ukraine verklagt Polen, Ungarn und die Slowakei

Für die Ukraine ist auch die Ausfuhr ihrer landwirtschaftlichen Produkte zu einer Überlebensfrage geworden
Die EU hat Kiew sowie Warschau, Budapest und Bratislava aufgefordert, einen Kompromiss für den ukrainischen Getreideexport in die drei Nachbarländer zu finden.
Brüssel versucht damit, im überkochenden Getreidestreit einen Kompromiss zu erreichen. Zuvor hatten Polen, Ungarn und die Slowakei am Freitag einen einseitigen Importstopp für ukrainisches Getreide mit sofortiger Wirkung erlassen.
Die drei EU-Mitglieder reagierten damit auf das Ende eines bis Mitte September befristeten Exportstopps für ukrainisches Getreide in alle direkten EU-Nachbarländer. Rumänien und Bulgarien nahmen den Brüsseler Entscheid, das Verbot nicht mehr zu verlängern, hin; Polen, Ungarn und die Slowakei wehrten sich dagegen.
Die EU-Kommission wies am Montag am Rande eines Treffens der Agrarminister darauf hin, dass die Handelspolitik alleine in der Kompetenz Brüssels und nicht der einzelnen Mitgliedstaaten liege. Auf diesen Standpunkt stellt sich auch Kiew. Noch am Montag wollte die Ukraine deshalb ein Verfahren vor dem WTO-Schiedsgericht in Genf gegen Polen, Ungarn und die Slowakei anstrengen. Dieses Schiedsgericht der 164 WTO-Mitglieder gilt als die effektivste internationale Instanz beim Handelsstreit.
Für die wirtschaftlich arg gebeutelte Ukraine steht dabei vor allem finanziell einiges auf dem Spiel. „Unsere Bauern leiden sehr unter dem Krieg, denn der Exportanteil von Agrarprodukten liegt bei über 50 Prozent; wenn dazu EU-Exportbeschränkungen für ukrainisches Getreide kommen, ist der Schaden für die Wirtschaft sehr groß“, erklärte Wirtschaftsministerin Julia Swiridenko vorige Woche bei einem Interview mit dem Tageblatt.
Dies hat folgende Gründe: Im Zuge der russischen Hafenblockaden am Schwarzen Meer muss die Ukraine immer mehr Getreide auf dem Landweg zu alternativen EU-Häfen exportieren. Der Landexportweg ist umso wichtiger für Kiew, da seit Kriegsbeginn Agro-Exporte über 50 Prozent aller Exporte der Ukraine ausmachen und dem gebeutelten Staat wichtige Einnahmen bescheren, die dringend für die Landesverteidigung nötig sind. Die Ukraine produziert etwa zehn Prozent des weltweiten Getreidebedarfs. Davon wurden bis zur russischen Aufkündigung des Getreideabkommens Mitte Juli rund 60 Prozent auf dem Landweg, vor allem durch Osteuropa und über den Balkan, zehn Prozent über die Donau und 30 Prozent über das Schwarze Meer exportiert. Das Schwarze Meer fällt als Transportroute einstweilen aus.
Heikle Aufgabe vor Parlamentswahlen
Ein Teil des auf dem Landweg transportierten Getreides soll indes vom Transit abgezweigt und unter heimische Ernten gemischt worden sein. Durch Beimischung ukrainischer Getreidekörner konnten gewisse Getreidemühlen ihr Mehl billiger anbieten; dies setzte laut Bauernverbänden den Ankaufspreis für heimisches Getreide unter Druck. In Polen und Rumänien kam es zu wütenden Bauernprotesten. Polen, Ungarn, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien hatten daraufhin in Brüssel einen Exportstopp ukrainischen Getreides bis Mitte September erwirkt. Vor allem auf der Linie Warschau-Kiew hatte dieses Verhalten zu Verwerfungen geführt, gilt Polen doch seit Jahren und erst recht seit der russischen Invasion vor 18 Monaten als einer der größten Unterstützer der Ukraine.
Doch Warschau steht in der Getreidefrage vor einer heiklen Aufgabe. In nur vier Wochen stehen Parlamentswahlen bevor – und die nationalpopulistische Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) will diese ein drittes Mal in Folge gewinnen. Dafür ist PiS auf die Stimmen des Dorfes angewiesen. Gut eine Million polnischer Bauern erwirtschaften einen Großteil ihres Einkommens mit dem Getreideanbau. Dies schafft Zehntausende wichtige Arbeitsplätze auf dem Dorf. PiS setzt deshalb alles daran, die Bauern bei der Stange zu halten. Und riskiert dabei selbst einen diplomatischen Eklat mit der Ukraine.
PiS-Politiker sind aufgebracht
Kiew verhalte sich arrogant und wolle Warschau belehren, klagte am Montag Ex-Regierungschefin Beata Szydlo. „Dieser Stil überrascht“, twitterte Szydlo und klagt, dass Vize-Wirtschaftsminister Taraz Katschka Polen verklagen wolle, um „der Welt ein Beispiel zu geben“. Als „selbstmörderisches Eigentor“ bezeichnet Polens EU-Beitrittsunterhändler Jacek Sariusz-Wolski (PiS) gar Kiews Klage gegen Polen vor dem WTO-Schiedsgericht. „Moskau wird sich freuen“, twitterte er. Robert Telus, Jaroslaw Kaczynskis Landwirtschaftsminister, hatte bereits vor ein paar Wochen damit gedroht, Warschau könnte in Zukunft den EU-Beitritt der Ukraine blockieren. „Dieser Ton schockiert“, rieb sich die Kiewer EU-Ministerin Olha Stefanischina die Augen. Bisher hatte Polen die ukrainischen EU-Ambitionen immer vehement unterstützt.
In der Slowakei stehen bereits in zwei Wochen Parlamentswahlen an, bei denen prorussische Populisten in Umfragen die Nase vorn haben. Die derzeit noch dezidiert pro-ukrainische Technokraten-Regierung in Bratislava will der Opposition deshalb nicht noch mehr Munition liefern. Ungarn wiederum schießt traditionell quer und versucht Kiew seit Beginn der russischen Invasion eher zu schaden als zu helfen, pflegt Regierungschef Viktor Orban doch ein enges Freundschaftsverhältnis mit dem russischen Machthaber Wladimir Putin.
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