EU-GipfelStreit um Rechtsstaat und Energiepolitik wurde vertagt

EU-Gipfel / Streit um Rechtsstaat und Energiepolitik wurde vertagt
(v.l.) Polens Premierminister Mateusz Morawiecki, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Ungarns Regierungschef Viktor Orban gestern beim EU-Gipfel Foto: Pool/AFP/John Thys

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Bei ihrem vorläufig letzten EU-Gipfel wurde die deutsche Kanzlerin gefeiert. Doch die drängenden Probleme wurden nicht gelöst.

Zum Abschied gab es Ovationen. Nach ihrem vermutlich letzten EU-Gipfel spendeten 26 europäische Staats- und Regierungschefs der scheidenden deutschen Kanzlerin Angela Merkel am Freitag in Brüssel stehend Beifall. „Du bist ein Monument“, sagte Ratspräsident Charles Michel. Ein Gipfel ohne Merkel sei wie Rom ohne den Vatikan oder Paris ohne den Eiffelturm. Luxemburgs Premier Xavier Bettel würdigte sie als „Kompromissmaschine“. „Frau Merkel hat meistens doch etwas gefunden, das uns verbindet“, sagte Bettel. Nach ihrem 107. Europäischen Rat – so die offizielle Bezeichnung für die EU-Gipfel – fällt die Bilanz der Kanzlerin allerdings mager aus.

Fast fünf Stunden haben die 27 EU-Granden über die Energiepolitik und den Gaspreisschock diskutiert, rund zwei Stunden über Polen und den Rechtsstaat. Doch auf Maßnahmen konnten sie sich nicht einigen, alle Streitfragen wurden vertagt. Merkel stand bei ihrem Abschied nicht für Kompromisse, sondern für Abwiegeln und Aussitzen. Dies fing schon beim Streit um Polen an. „Wir müssen Wege und Möglichkeiten finden, wieder zusammenzukommen“, erklärte Merkel – und wehrte Sanktionen gegen die PiS-Regierung in Warschau ab. Das Europaparlament hatte Geldstrafen gefordert, weil Polen den Vorrang des EU-Rechts infrage stellt und die Justiz an die Leine nimmt.

Auch viele EU-Länder haben den Druck erhöht. Die EU müsse gegenüber Warschau „hart bleiben“, forderte der niederländische Premier Mark Rutte. Luxemburg, Belgien und Frankreich drohten dem polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki mit Konsequenzen. Doch zu Beschlüssen kam es nicht, die Aussprache wurde geheim gehalten.

Am Ende stärkte der Gipfel der EU-Kommission den Rücken. Kommissionschefin Ursula von der Leyen soll gegen Polen vorgehen, allerdings nicht zu hart und nicht zu schnell: Zunächst gelte es, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum neuen Rechtsstaats-Mechanismus abzuwarten, hieß es in Brüssel. Doch dieses Urteil wird erst im Dezember erwartet.

Keine Strategie gegen Energiekrise

Ebenfalls auf Dezember wurde der Streit über die Energiepolitik vertagt. Spanien, Frankreich und Griechenland hatten gefordert, den Energiemarkt zu reformieren, um den rasanten Preisanstieg zu dämpfen. Merkel sprach sich jedoch für „mehr Markt“ aus. Die Krise könne mit nationalen Maßnahmen bewältigt werden, man müsse besonnen vorgehen.

Die Kanzlerin wandte sich auch gegen den Versuch, gegen Spekulation im Energiemarkt vorzugehen. Spanien, aber auch Polen und Tschechien forderten hierzu einen EU-Beschluss. Doch nach langem Hin und Her beschloss der Gipfel lediglich, diese Frage zu prüfen. Mit Ergebnissen der Untersuchung wird erst im Frühjahr gerechnet. Eine Strategie gegen die Energiekrise hat der Abschiedsgipfel letztlich nicht gefunden, auch der Streit um den Rechtsstaat bleibt ungelöst.

Immerhin fand der EU-Gipfel zu diesem Problem eine gemeinsame Linie. Ganz zum Schluss ihrer Sitzung beschlossen die Staats- und Regierungschefs, die EU-Außengrenzen besser gegen „hybride Angriffe“ abzusichern. Wenn nötig, soll dazu sogar das EU-Recht geändert werden.

Le Pen solidarisiert sich mit Morawiecki

Polen hat im Justizstreit mit der EU demonstrative Rückendeckung von der rechtspopulistischen französischen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen bekommen. Le Pen traf den polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki gestern am Rande des Gipfels in Brüssel. Anschließend veröffentlichte sie im Onlinedienst Twitter ein Foto, das die beiden beim Händedruck zeigt. „Wir haben über die inakzeptable Erpressung Polens durch die EU-Kommission gesprochen, und ich habe ihm meine Unterstützung zugesagt“, erklärte Le Pen. Hintergrund ist ein Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, das die EU-Verträge in Teilen für verfassungswidrig erklärt hatte. Auch den Vorrang des EU-Rechts gegenüber nationalem Recht hatte das polnische Verfassungsgericht verneint.

Keine neuen „Mauern“ gegen Flüchtlinge im Osten

Neue „Stacheldrahtzäune und Mauern“ darf es an der Ostgrenze Europas nicht geben – das hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gestern zum Abschluss des EU-Gipfels in Brüssel deutlich gemacht. Denn wegen der deutlich steigenden Zahl von Flüchtlingen über die Belarus-Route rufen Polen, Litauen und Lettland nach finanzieller Hilfe, um ihre Grenzen stärker abzuschotten. Die Staats- und Regierungschefs zeigten sich auf ihrem Gipfel uneins über das weitere Vorgehen gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko. Österreich befürwortet wie rund ein Dutzend Länder eine Aufrüstung an der Ostgrenze. Dort könnten auch Drohnen und Zäune für einen „robusten Außenschutz“ zum Einsatz kommen, sagte der neue österreichische Bundeskanzler Alexander Schallenberg. Um „Mauerbau“ gehe es nicht, beschwichtigte er.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel plädierte dagegen für verschärfte Sanktionen. Sie räumte aber ein, dass Europa in der Flüchtlingsfrage „von außen auch immer wieder verwundbar“ sei. Länder wie Luxemburg und Österreich ließen aber Skepsis über immer neue Sanktionsrunden erkennen, die bisher kaum Wirkung gezeigt haben. Denn als Vergeltung für die Strafmaßnahmen schleust Belarus Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika in die EU. Auch in Deutschland kommen immer mehr Menschen an.
Der litauische Präsident Gitanas Nauseda warf Belarus auf dem Gipfel vor, „Flüchtlinge als Waffe zu missbrauchen“. In der Abschlusserklärung des Gipfels droht die EU Belarus weitere „Zwangsmaßnahmen“ an. Zudem soll die EU-Kommission „finanzielle Unterstützung“ für Länder wie Litauen, Lettland und Polen prüfen. (AFP)