TunesienStaatschef entlässt weitere führende Köpfe aus staatlichen Institutionen

Tunesien / Staatschef entlässt weitere führende Köpfe aus staatlichen Institutionen
Präsident Kaïs Saïed (l.) sieht sein Handeln durch die Verfassung gedeckt, Ennahdha-Gründer Rached Ghannouchi nicht Fto: AFP/Fethi Belaid/Eric Piermont

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In Tunesien verschärft sich die politische Krise weiter: Wenige Tage nach der Entmachtung der Regierung tauschte Staatschef Kaïs Saïed die Spitzen weiterer staatlicher Institutionen aus.

Während international die Sorge um Tunesiens junge Demokratie wächst, zeigte sich Parlamentschef Rached Ghannouchi von deren Widerstandsfähigkeit überzeugt. Den „antidemokratischen Kräften“ werde es nicht gelingen, „Tunesien zurück in eine Diktatur zu verwandeln“, sagte er der Süddeutschen Zeitung. Saïed hatte am Sonntag Regierungschef Hichem Mechichi abgesetzt und die Aussetzung der parlamentarischen Arbeit sowie die Aufhebung der Immunität aller Abgeordneten angeordnet. Während der Präsident betonte, sein Handeln stehe im Einklang mit der Verfassung, sprach die islamistisch geprägte Regierungspartei Ennahdha von einem „Putsch“. Der Präsident habe „mit undemokratischen Kräften“ gemeinsame Sache gemacht, um „die Verfassungsrechte der gewählten Amtsträger auszuhebeln“.

Seit Sonntag setzte Saïed zahlreiche weitere ranghohe Regierungsbeamte ab, darunter die Minister für Verteidigung und Justiz. Am Mittwoch feuerte er den Chef des staatlichen Fernsehsenders Wataniya, Laassad Dhahech. Zuvor hatte der frühere Juraprofessor die richterliche Gewalt übernommen. Verschärft wurden die Spannungen, als Tunesiens Staatsanwaltschaft am Mittwoch die Eröffnung von Ermittlungen gegen Ennahdha und zwei weitere Parteien wegen des Verdachts der illegalen Parteienfinanzierung bekannt gab. Kurz darauf kündigte Saïed eine großangelegte Anti-Korruptions-Offensive an.

Es gebe 460 Menschen, die dem Staat 13,5 Milliarden Dinar (rund vier Milliarden Euro) schuldeten, sagte Saïed bei einem Treffen mit dem Chef des Arbeitgeberverbands Utica unter Verweis auf den Bericht einer Untersuchungskommission zu Korruption und Unterschlagung während der Herrschaft des früheren Machthabers Zine El Abidine Ben Ali. „Dieses Geld muss an die tunesische Bevölkerung zurückgegeben werden.“

Saïed war schon in der Vergangenheit als Kämpfer gegen Korruption aufgetreten. Im Januar hatte er eine von Mechichi geplante Kabinettsumbildung mit dem Argument verhindert, dass es Interessenkonflikte geben könnte – und einige Minister in Korruptionsaffären verwickelt seien.

Der 63-jährige Staatschef kündigte am Mittwoch zudem die Einrichtung eines Krisenstabs zur Bewältigung der Corona-Pandemie an. In dem nordafrikanischen Land breitet sich das Coronavirus derzeit stark aus. Der Entmachtung Mechichis durch Saïed am Sonntag waren heftige Proteste gegen das Corona-Krisenmanagement der Regierung vorausgegangen.

International löste die Krise Sorge um die Demokratie in Tunesien aus. Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian forderte eindringlich die Ernennung einer neuen Regierung in Tunis.

Vorwürfe an „arabische Diktaturen“

Parlamentspräsident Ghannouchi, der zugleich Vorsitzender der Ennahdha-Partei und einer der wichtigsten politischen Kontrahenten Saïeds ist, kündigte friedlichen Protest an, „bis die Demokratie wiederhergestellt ist“. Es sei weder im Interesse seiner Partei noch des Landes, dass es zu Gewalt gegen die Armee komme, betonte er in der Süddeutschen Zeitung (Freitagsausgabe).

Ghannouchi warf „gewissen arabischen Diktaturen“ vor, auf das Scheitern des demokratischen Experiments in Tunesien hingearbeitet zu haben. „Die tunesische Erfahrung eines demokratischen Wandels mit seinem spezifischen Einklang zwischen Islam und Demokratie“ stelle eine Bedrohung für diese Staaten dar. „Medien aus den Golfstaaten“ behaupteten, „dass der Arabische Frühling, der in Tunesien geboren wurde, nun in Tunesien stirbt“. Er aber glaube daran, dass sich das tunesische Modell in der ganzen Region verbreiten werde.

Tunesien galt lange als Musterland des Arabischen Frühlings. Allerdings hat das Land auch zehn Jahre nach dem demokratischen Wandel nicht zu politischer Stabilität gefunden. Seit dem Sturz von Langzeit-Machthaber Ben Ali im Januar 2011 gab es neun Regierungen, von denen sich einige nur Monate an der Macht halten konnten. In den vergangenen Monaten hatte der Machtkampf zwischen Ghannouchi und Mechichi auf der einen sowie Präsident Saïed auf der anderen Seite die tunesische Politik bestimmt. (AFP)