Tageblatt-FeatureMehr Flüchtlinge im Flüchtlingsland: Die Balkanroute führt immer häufiger über Albanien

Tageblatt-Feature / Mehr Flüchtlinge im Flüchtlingsland: Die Balkanroute führt immer häufiger über Albanien
Die Vjosa ist einer der letzten Wildflüsse Europas – und Teil einer gefährlichen Migrationsroute Foto: Armand Back

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Die zunehmende Abriegelung der serbisch-mazedonischen Grenze lässt mehr Flüchtlinge und Migranten über Albanien den Weg nach Westen suchen.

Der erhoffte Aufbruch in ein neues Leben in Italien endete für die Schiffbrüchigen im albanischen Krankenhaus. Stark unterkühlt und dennoch mit Verbrennungen wurden 55 Geflüchtete aus Syrien, Iran und Ägypten von der Küstenwache Anfang Januar unweit der Hafenstadt Vlora aus ihrem sinkenden Schlauchboot gefischt. Starker Wellengang und Wind hatten die Luftkammern des drei Stunden lang in der Mündung des Flusses Vjosa treibenden Boots schwer beschädigt. Gleichzeitig wurden die hilflosen Passagiere mit glutheißem Benzin aus dem defekten Motor bespritzt.

Die Schlepper hatten ihnen vorab eine nächtliche Yacht-Passage über die Adria gelobt: Laut albanischen Medien zahlten die Passagiere für die fatale Schlauchbootfahrt zwischen 2.000 und 4.000 Dollar pro Person. Zusammen mit seinen beiden Schwestern und einem siebenjährigen Neffen hatte sich der Syrer Jilal M. an die lebensgefährliche Überfahrt gewagt. Sein Bruder habe das Geld bezahlt, „ich weiß nicht, wie viel“, berichtete er niedergeschlagen nach seiner Rettung: „Wir wollten nach Italien, nach Europa, wohin auch immer.“

Immer mehr Transitmigranten auf der sogenannten Balkanroute steuern auf ihrem Weg nach Westen Albanien an. Selbst im Corona-Jahr 2020 nahm die Zahl der in dem Adria-Staat offiziell registrierten Flüchtlinge laut Auskunft des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Albanien mit 11.967 leicht zu. 70-75 Prozent von ihnen stammten aus Syrien, Afghanistan oder Irak und reisten in der Regel aus Griechenland ein, so Artur Marku vom UNHCR in Tirana: Die Mehrheit von ihnen sehe in Albanien nur eine Durchgangsstation und setze ihre Reise „bald“ fort – zumeist in Richtung Montenegro oder Kosovo.

Laut Medienberichten soll sich die Zahl der verhinderten Grenzübertritte 2020 gar verdreifacht haben. Zwar dürfte für den Anstieg vor allem die Kooperation der albanischen Grenzpolizei mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex seit Mai 2019 verantwortlich sein. Doch gegenüber dem Tageblatt bestätigt Jasmin Redzepi, der Direktor der Flüchtlingshilfe-Organisation „Legis“ im mazedonischen Skopje, die neue Bewegung auf der Balkanroute: „Die Hauptroute führt von Griechenland noch immer über Nordmazedonien und Serbien nach Bosnien. Aber immer mehr Leute weichen nach Albanien aus.“

Neuer Grenzzaun, vermehrter Knüppeleinsatz

Als Grund für den Flüchtlingsdrang zur Alternativroute nennt Redzepi Serbiens neuen Grenzzaun zu Nordmazedonien sowie den vermehrten Knüppeleinsatz beim Zurückdrängen der ungewollten Grenzgänger: „Es mehren sich die Fälle von Flüchtlingen, die von serbischen Grenzern zusammengeschlagen werden und mit Verletzungen von der Grenze zurückkehren.“ Albaniens Grenzen seien durchlässiger. Im Winter sei der bergige Weg über Montenegro nach Bosnien zwar beschwerlich. Doch vermehrt werde die Route über Kosovo und Serbien nach Bosnien genutzt: „Schlepper schleusen Leute mit Geld auch direkt über die Adria nach Italien – entweder in Containern oder mit kleinen Booten.“

Ein Flüchtlingsland wird zum Flüchtlingsziel. Zwar hatten bereits während des Kosovokriegs 1999 fast eine halbe Million Menschen in Albanien Zuflucht gesucht. Doch in den vergangenen Jahrzehnten hat der bitterarme Küstenstaat vor allem als Herkunftsland von Flüchtlingen von sich Reden gemacht.

Nach dem Zusammenbruch des albanischen Steinzeitsozialismus gingen 1991 die Fotos von Zehntausenden Albanern um die Welt, die an Bord verrosteter und völlig überladener Frachter nach Italien zu gelangen versuchten. Erneut schipperten Tausende 1997 in altersschwachen Fischerbooten über die Adria, als es nach dem Zusammenbruch betrügerischer Pyramidensparsysteme in dem Balkanstaat zu bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen kam.

Armut und fehlende Perspektiven ließen viele Albaner auch nach der Jahrtausendwende ihr Heil in der Emigration suchen. Allein zwischen den Volkszählungen 2001 und 2011 verlor das Land über acht Prozent seiner Bevölkerung von nun offiziell 2,8 Millionen: Über 1,6 Millionen Menschen soll inzwischen die albanische Diaspora im Ausland zählen. Wenige Monate, nachdem sich Ende 2014 rund 100.000 Kosovaren in einem spektakulären Exodus über Serbien und Ungarn nach Westeuropa aufmachten, folgte im Jahr 2015 eine neue Welle von Zehntausenden Albanern, die ihren Emigrationstraum mit Hilfe von Asylanträgen im Westen zu verwirklichen versuchten.

Weltweit stellten 2019 noch immer fast 21.000 Albaner einen Asylantrag, die meisten in Frankreich, Großbritannien und Griechenland: Die Zahl der albanischen Asylbewerber im Ausland übertrifft damit noch immer die offizielle Flüchtlingszahl in Albanien.

Selbst minimale Standards werden kaum eingehalten

Dass kaum ein Flüchtling in Albanien bleiben will, hat auch mit der miserablen Versorgung zu tun. Die Agentur „Balkan-Insight“ berichtete bereits im letzten Jahr über das vermehrte Phänomen mittelloser Flüchtlinge, die in Tirana um Nahrung betteln. Mehrmals hat das albanische Helsinki-Komitee (AHC) die Erhöhung der staatlichen Mittel angemahnt, die 2020 nur 2,60 Euro pro Flüchtling und Tag betrugen. Das Nichteinhalten eines „Minimumstandards“ sei ein „Verstoß gegen die Flüchtlingskonvention“: „Auch wenn Albanien arm ist, hat es die Verpflichtung, sich an unterzeichnete Konventionen zu halten.“

Mit Unterstützung internationaler Hilfsorganisation wie der UNHCR und der IOM hat sich die Kapazität der Aufnahme- und Durchgangslager zwar auf insgesamt 400 Plätze erhöht. Doch bis auf die Caritas scheinen sich auffallend wenige NGOs und Wohlfahrtsorganisationen mit Flüchtlingen zu beschäftigen. „Wir versuchen seit Jahren, mit albanischen Organisationen zu kooperieren“, berichtet in Skopje Legis-Direktor Redzepi: „Aber es gibt keine NGO, die sich wirklich um die Versorgung der Leute kümmert.“ Einen Grund dafür wittert er hinter deren sehr engen Zusammenarbeit mit dem Innenministerium: „Die NGOs richten ihre Arbeit oft nach den Prioritäten der Regierung aus.“