ÖsterreichMarsch in den zweiten Lockdown: Regierung wieder im Panikmodus, aber viele ziehen nicht mehr mit

Österreich / Marsch in den zweiten Lockdown: Regierung wieder im Panikmodus, aber viele ziehen nicht mehr mit
„Kraftakt“: Österreichs grüner Vizekanzler Werner Kogler und konservativer Kanzler Sebastian Kurz verkünden neue Maßnahmen Foto: dpa/Roland Schlager

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Täglich neue Infektionsrekorde führen auch Österreich wieder zu schärferen Corona-Restriktionen. Ein zweiter Lockdown droht – auch, weil das Verständnis für die Maßnahmen eher ab- als zunimmt.

„Die Lage ist sehr ernst“, sagt Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), „die Lage ist ernst, sehr ernst“, sekundiert sein grüner Vize Werner Kogler. Die Bundesregierung ist wieder dort, wo sie sich Mitte März befand: im Panikmodus. Dazu gibt es auch allen Anlass. Der tägliche Zuwachs an Covid-19-Infizierten geht wieder in den exponentiellen Bereich über. Mit steigendem Durchschnittsalter der Erkrankten nimmt die Zahl der Hospitalisierten wieder zu. Und auch die der Corona-Toten – von Sonntag auf Montag um zehn auf nun insgesamt 904.

Die für Österreichs Wirtschaft so wichtige Wintersaison steht auf der Kippe. Die EU-Gesundheitsagentur ECDC hat gestern die Corona-Ampel für ganz Österreich auf Rot geschaltet. Deutschland will Heimkehrer aus Risikogebieten selbst dann in Quarantäne schicken, wenn sie von ihrem österreichischen Quartiergeber mit einem negativen Covid-Test verabschiedet werden. Der Aufruf von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) an ihre Landsleute, auf nicht zwingend notwendige Reisen zu verzichten, traf Österreichs Touristiker wie ein Keulenschlag.

Verschärfte Maßnahmen

Die Zahlen müssen also runter, und zwar schleunigst. Also rückte das „virologische Quartett“ – Kanzler Kurz, „Vize“ Kogler sowie Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) und Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) – gestern wieder einmal aus, um den Österreichern in einer gemeinsamen Pressekonferenz den Ernst der Lage zu verdeutlichen und die Corona-Zügel anzuziehen. Ab Freitag sind bei Veranstaltungen und privaten Zusammenkünften in geschlossenen Räumen nur noch maximal sechs Personen zugelassen, sofern es keine zugewiesenen Sitzplätze gibt. Im Freien dürfen sich bis zu zwölf Personen treffen. Das gilt bei allen Freizeitaktivitäten, sogar auf Spielplätzen. Auch Geburtstags- und Hochzeitsfeiern sind damit de facto verboten. Lediglich an Begräbnissen dürfen weiterhin bis zu 500 Trauergäste teilnehmen.

Die Maximalzahl bei behördlich genehmigten Veranstaltungen mit Covid-Vorsorgekonzept wurde von 1.500 auf 1.000 indoor und von 3.000 auf 1.500 im Freien gesenkt. Auch im Restaurant dürfen maximal sechs Personen an einem Tisch sitzen.

„Die nächsten Monate werden ein rot-weiß-roter Kraftakt werden“, appellierte der Kanzler an das Verantwortungsbewusstsein der Österreicher. Seit Tagen versuchen Regierungsmitglieder den Landsleuten klarzumachen, dass es vor diesem Winter wirklich um die Wurst geht. Jeder dritte Arbeitsplatz in der Alpenrepublik hängt direkt oder indirekt zumindest teilweise am Tourismus. Ein zweiter Lockdown im November hätte wirtschaftlich noch gravierendere Folgen als der erste im Frühjahr.

Schulterschluss war einmal

Doch so ernst die Lage auch nun wieder ist, so schwer tut sich die Regierung beim Durchziehen harter Präventionsmaßnahmen. Neben den gestern verkündeten Verschärfungen sticht vor allem ins Auge, was nicht gekommen ist. Das erwartete bundesweite Vorziehen der Sperrstunde gibt es ebenso nicht wie ein Verbot der inzwischen durch mehrere Studien als wirkungslos entlarvten Gesichtsschilder als Ersatz für Mund-Nasen-Masken. Zwar haben die westlichen Bundesländer die Sperrstunde schon auf 22 Uhr vorgelegt, weil unter Alkoholeinfluss zu späterer Stunde das Abstandhalten immer weniger funktioniert, andere Länder legten sich jedoch quer. Auch eine bundesweite Registrierungspflicht in Restaurants sowie einheitliche Regeln zur Maskenpflicht gibt es nicht.

Von einem nationalen Schulterschluss, der im März einen nahezu widerspruchslos hingenommenen Lockdown ermöglicht hatte, ist nicht mehr viel zu spüren. Auf allen Ebenen – auch innerhalb der Regierungsparteien – regt sich Widerstand. In Innsbruck demonstrierten Eltern und Schüler gestern gegen das in allen auf der nationalen Corona-Ampel orange bzw. rot geschalteten Bezirken verordnete Home-Schooling. Oberösterreich wiederum pfeift überhaupt auf die von Wien aus geschaltete Ampel und schaltet für Schulen eine eigene Ampel, die selbst dann auf gelb bleibt, wenn die andere schon orange oder gar rot anzeigt. Aus dem ÖVP-regierten Bundesland kommt auch die von SPÖ und FPÖ umgehend begrüßte Forderung nach einer Verkürzung der Quarantäne von derzeit zehn auf fünf Tage. Auch die Mitmachbereitschaft der Bürger lässt zu wünschen übrig: Beim für die Eindämmung von Clustern entscheidenden Kontakt-Tracing werden immer öfter falsche Angaben gemacht, weil Infizierte Freunden und Verwandten keine Probleme machen wollen.

Von Risikoliste runterschwindeln?

Für einige Aufregung sorgt unterdessen ein Vorschlag, den der Bundesrettungskommandant Gerry Foitik dem Krisenstab des Innenministeriums unterbreitet hat. Der Rot-Kreuz-Funktionär plädiert für weniger Tests. Ausdrücklich auf den Wintertourismus verweisend empfahl Foitik eine Einstellung von Testungen bei Kontaktpersonen der Kategorie 1 in Quarantäne, wenn die Infektionszahlen „zu hoch sind für eine ‚grüne‘ Einschätzung der EU-Partner“.

Die SPÖ ortet einen „Skandal“, die Neos kündigten eine parlamentarische Anfrage an. Foitik verteidigt seine Idee mit den ohnehin unterschiedlichen Praktiken in den EU-Ländern. Slowenien etwa teste Personen, die nach Kontakt mit Infizierten in Quarantäne seien, schon jetzt nicht und schaffe so eine bessere Einschätzung durch die ECDC als Österreich. Ob getürktes Grün auf der EU-Ampel vor dem zweiten Lockdown bewahrt, steht freilich auf einem anderen Blatt …