Corona-WinterIm deutschen Bundestag bekommt die Kanzlerin Druck von fast allen Seiten

Corona-Winter / Im deutschen Bundestag bekommt die Kanzlerin Druck von fast allen Seiten
Angela Merkel lacht sich in die Maske, nachdem sie selbige auf dem Rednerpult im Bundestag vergessen hatte Foto: AFP/Tobias Schwarz

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Auf der Spree treiben Eisschollen, vor dem Reichstag türmt sich hier und da der Schnee. Es nieselt kalt vom Himmel an diesem Donnerstagmorgen. Drinnen sagt Angela Merkel: „Dieser Winter ist hart. Da draußen genauso wie in dem, was er mit unserem Leben macht.“ Es ist der deutsche Corona-Winter. Entsprechend frostig geht es im Bundestag zu, nachdem die Kanzlerin einmal mehr für ihr Vorgehen in der Pandemie und die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz vom Vortag geworben hat.

Die Enttäuschung ist bei Abgeordneten, die in ihren Wahlkreisen erheblich unter Druck stehen, genauso groß wie bei zahlreichen Bürgern. Man hatte sich angesichts sinkender Infektionszahlen klarere Perspektiven bis hin zu Lockerungen erhofft. Oder wie FDP-Chef Christian Lindner stichelt: „Viele Menschen haben mehr erwartet als einen frischen Haarschnitt.“ Friseure dürfen ab dem 1. März öffnen, sonst niemand; der Lockdown wurde bis mindestens 7. März verlängert. Über die Schulen und Kitas entscheiden die Länder jetzt selbst.

Der Frustpegel steigt nun allerorten. Lindner wirft Merkel und den Regierungschefs der Länder Einfallslosigkeit im Umgang mit der Pandemie vor. Es gebe eine „große Erschöpfung“ in der Gesellschaft, da helfe es nicht, wenn sich die Verantwortlichen ausschließlich am Stillstand orientieren würden. Die Kanzlerin lauscht geduldig, ab und an dreht sie ihren Kugelschreiber. Merkel ist erprobt im Aushalten. Die Kritik an ihrem Vorgehen wird allerdings immer lauter, die Trennlinien im Parlament damit zugleich schärfer. Es ist Wahljahr. Das macht sich bemerkbar.

Schlechtes Zeugnis vom CDU-Fraktionschef

Merkel gilt nach wie vor als größte Corona-Mahnerin, die vor allem auf Zahlen und wissenschaftliche Erkenntnisse schaut – und die nun von den deutlich aggressiveren Corona-Mutationen getrieben wird. Der Vorwurf „35 ist die neue 50“ steht seit Mittwochabend im Raum. Ziel sind nicht mehr maximal 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner in sieben Tagen, sondern plötzlich 35. Erst dann sollen Einzelhandel, Museen, Galerien und körpernahe Dienstleistungen neue Perspektiven erhalten. Die Kanzlerin erklärt, angesichts der Mutationen sei es richtig, nicht Daten für mögliche Öffnungen zu nennen, „sondern Infektionszahlen, also Inzidenzen“. Der Wert 35 sei im Infektionsschutzgesetz festgelegt. Ihr gehe es darum, eine dritte Welle, „die kommen könnte, wenn das neue Virus die Oberhand gewinnt“, zu verhindern. Merkel, die Beharrliche, bleibt im Bundestag ihrer Linie treu.

AfD-Fraktionschefin Alice Weidel lässt das der Kanzlerin nicht durchgehen. „Laufend und willkürlich“ würden die Parameter verändert, schimpft sie. „Drei Monate Wellenbrecher-Lockdown, und Sie wollen noch mal einen Monat dranhängen.“ Weidel setzt wie immer auf Attacke. Merkel bekommt freilich Druck von fast allen Seiten. Selbst ihr eigener Fraktionschef, Ralph Brinkhaus, listet Punkt für Punkt notwendige Verbesserungen auf – von Änderungen bei der Impfstrategie bis hin zur Softwarefrage in den Gesundheitsämtern. Unter dem Strich stellt er der Kanzlerin ein eher schlechtes Zeugnis aus. Die eigene Fraktion emanzipiert sich zunehmend von ihr.

Die SPD verzichtet auf Angriffe

Deutlich kritischer als zuletzt präsentieren sich auch die Grünen. Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt beklagt, dass Vertrauen verloren gegangen sei, weshalb die Maßnahmen weniger ernst genommen würden. Über die Entscheidung, Friseure zu öffnen, könne man lachen, „ich gönne jedem eine Frisur“, so die Grüne. Doch offenbar habe man dem Volk nur ein Bonbon geben wollen – „das ist aber keine Strategie“, ätzt Göring-Eckardt. Lediglich die SPD verzichtet im Bundestag auf Angriffe. Die beschlossenen Maßnahmen seien zwar „eine Last, man hat nach all den Anstrengungen auf anderes gehofft“, so Fraktionschef Rolf Mützenich. Gleichwohl seien die Beschlüsse „angemessen, notwendig und gut begründet“. Merkel war vor einigen Wochen von den Genossen wegen des Impfdebakels scharf attackiert worden. Diesmal will die SPD nicht Regierung und Opposition zugleich sein.

Und Merkel? Sie räumt Fehler ein, im Herbst sei es zu einer zweiten Infektionswelle gekommen, „weil wir nicht früh genug und nicht konsequent genug das öffentliche Leben heruntergefahren haben“. Auch habe der Start der Impfkampagne „viele Menschen enttäuscht“. Erneut appelliert sie jedoch, „all die Anstrengungen und Entbehrungen“ durchzuhalten. Man sei nicht mehr weit von Zahlen entfernt, „die uns Schritt für Schritt wieder Öffnungen und Freiheiten erlauben können“, so die Kanzlerin. Nach dem Corona-Winter soll also das Frühlingserwachen kommen. Vielleicht.