LifestyleIkigai – inneres Aufräumen

Lifestyle / Ikigai – inneres Aufräumen
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Das Leben präsentiert sich zurzeit mit so vielen Ungewissheiten, Instabilitäten und überraschenden Veränderungen, sodass alte Lebensphilosophien wieder erwachen, um innere Stabilität zu schenken. Mit Ikigai verspricht ein traditionelles japanisches Konzept einen Weg zu einem langen, glücklichen Leben. Für diese Form des „inneren Aufräumens“ interessierte sich unsere Korrespondentin Elke Bunge.

Seit nunmehr fast zwei Jahren zwingt uns die Corona-Pandemie, sich auf eingegrenzte Räume zu konzentrieren. Zumeist bleiben wir zu Hause, in den eigenen „vier Wänden“, mit wenigem Kontakt außer dem zu den eigenen Familienangehörigen. Aus der mangelnden Bewegungsfreiheit finden wir einen anderen Blick auf Wohnung, Räume und Schränke mit der Schlussfolgerung, hier und da müsste einmal richtig aufgeräumt werden.

Dies gilt häufig auch für unser Innenleben. So, wie wir Zimmer und Schränke durchforsten, um längst nicht mehr getragene Kleidung, alte Zeitschriftenstapel, Bücher, die man garantiert nicht mehr lesen möchte, gut gemeinte, aber nie gemochte Geschenke aussortieren und in die Kleidersammlung oder auf den Sperrmüll geben, so können wir auch unseren Kopf und unsere Seele durchsehen. Von welchen Gewohnheiten sollte ich mich trennen, welchen Gedankenballast nicht mehr mit mir herumschleppen?

Besonders wir Frauen neigen dazu, immer funktionieren zu müssen. Die Doppel- oder Dreifachbelastung Beruf-Haushalt-Familie, kein Problem, wir „rocken“ das. Doch gerade im beschränkten Aufenthaltsraum Corona-Kokon dürfen wir darüber nachdenken, was lässt sich eigentlich delegieren, welche Aufgaben können andere Familienmitglieder übernehmen, auf welche Stärken kann ich mich konzentrieren? Was kann ich abgeben, ohne dem Zwang zu unterliegen, alles kontrollieren zu müssen? Und schließlich: Was darf und soll ich anstreben, damit es mir gut geht und in der Folge auch den Menschen, die mich umgeben.

Als hilfreich scheint sich da eine Lebensphilosophie aus dem Fernen Osten zu erweisen. „Ikigai“ heißt die Zauberformel, nach der ich nicht nur meine innere Balance wiederfinden kann, sondern auch meine Lebensbestimmung, mit der ich und andere glücklich leben können.

Der Grund, morgens aufzustehen

Ihren Ursprung hat die Lebensphilosophie in einem Land mit einer der ältesten Populationen der Welt: Japan. Ein Land mit sehr vielen uns unbekannten Traditionen. Aber was ist Ikigai? Es lässt sich ganz simpel mit einer einzigen Frage erörtern: Was ist der Grund, am Morgen aufzustehen? Wenn man sich am liebsten im Bett verkriechen möchte, dann – so die japanische Philosophie – könnte Ikigai hilfreich sein.

Übersetzen lässt sich das zusammengesetzte japanische Wort mit aus den Wörtern „ikiru“, das das „Leben“ meint, und „kai“, welches die Bedeutung „die Verwirklichung dessen, was man hofft“ hat. Inhaltlich lässt sich das Wort mit „der Grund zum Leben“ erklären.

Auf der Suche nach diesem Grund zu leben oder dem eigenen Ikigai geht es in der japanischen Tradition um eine grundlegende Selbsterforschung. Dies ist ein überaus persönlicher Vorgang. Auf der Suche nach seinem eigenen Ikigai geht man im Inneren folgenden vier Fragen nach. Die erste und wohl angenehmste ist: Was mache ich gern? Ihr folgt gleich: Was mache ich gut? Die Antworten auf diese beiden Fragen ergeben im Zusammenspiel „meine Passion“. Die dritte Frage ist: Was braucht die Welt? Kombiniert man diese mit der zweiten Frage, so ergibt sich daraus „meine Mission“. Die vierte und letzte Frage lautet schließlich: Wofür werde ich bezahlt? Bezogen auf die erste Frage wird daraus „mein Beruf“. In Kombination mit der zweiten Frage „meine Berufung“. Alle Fragen gemeinsam im Einklang mit mir ergeben mein persönliches Ikigai. Das Ergebnis kann von Individuum zu Individuum sehr verschieden sein. Findet oder hat ein Mensch sein Ikigai, gibt es für ihn ein Gefühl der Lebensfreude und damit der inneren Zufriedenheit. Dabei zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass es sich bei der Suche nach seinem individuellen Ikigai mit den ersten beiden Fragen „was mache ich gern“ und „was mache ich gut“ zunächst um die persönlichen Wünsche geht. Doch bei der dritten und vierten Frage, nach dem, was die Welt braucht und wofür wir bezahlt werden, handelt es sich um gesellschaftliche Fragen. Diese haben in dieser japanischen Philosophie einen ebenso großen Stellenwert wie die persönlichen Wünsche. Man könnte es als ein Gleichgewicht zwischen Umwelt und sich selbst bezeichnen.

Die Insel der Hundertjährigen

Rund 640 Kilometer südlich von den japanischen Hauptinseln gelegen, hat es Okinawa zu Weltruhm gebracht. Es ist die Insel der Hundertjährigen. Man könnte die Ernährung dafür verantwortlich machen: viel Fisch, Tofu und Gemüse. Doch die Einheimischen haben eine andere Erklärung: Es läge am besonderen „Ikigai“ der Okinawaer. Bereits vor Jahren notierte der US-amerikanische Publizist Dan Buettner in seinem Buch „The Blue Zones“ – Geheimnisse eines langen Lebens“: „In der Okinawa-Sprache gibt kein Wort für den Ruhestand, stattdessen gibt es ein Wort, das dein ganzes Leben vermittelt, und dieses Wort ist Ikigai.“ Längst ist das Leben der Hundertjährigen in das öffentliche Interesse der Weltpublizistik geraten. Was treibt die Menschen an, aktiv den Lebensabend – und schließlich das Leben selbst – zu gestalten? Sei es der tägliche Spaziergang mit dem Hund, das Beschäftigen mit den Traditionen – auf der japanischen Insel erlernen und trainieren noch die Alten die Kampfkünste –, das Pflegen des Gartens, der Fischfang, mit dem der Hundertjährige seine Familie und Nachbarn versorgt – die tägliche Aufgabe in Zufriedenheit zu erfüllen, ist der Kern des Ikigai. Insbesondere zählt die enge Integration in den Familienverband dazu, den Menschen ein zufriedenes Leben zu geben.

Nach den Vorstellungen der Japaner haben wir alle ein Ikigai zu entdecken. Es ist eine menschliche Verpflichtung, es zu suchen und zu leben. Erst dann werden wir Klarheit und Aufgeräumtheit in Kopf und Seele, eine volle Zufriedenheit erlangen und ein langes und erfülltes Leben finden.