Hintergrund / Gespräch mit Kreml-Kennerin: „Nawalny soll für viele Jahre hinter Gitter“
Wie Nawalny zum Feind des russischen Staats wurde, warum die Elitegruppen hinter Putin stehen und welche längerfristigen Folgen die Nawalny-Affäre für das Machtsystem haben könnte: Ein Gespräch mit der Kreml-Kennerin Tatjana Stanowaja.
Zunächst wollte der Kreml die ganze Sache überhaupt abtun. Ein „Unsinn“ sei Alexej Nawalnys Dokumentation über Wladimir Putins Palast an der Schwarzmeerküste, sagte Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow, der bei Problemen stets an die Front geschickt wird. Doch damit war die Affäre nicht vorüber. Die Fragen der Journalisten wollten nicht verstummen. Schließlich sprach Putin selbst ein Machtwort. Gegenüber Studenten nannte er das Video, das er ausschnittsweise gesehen habe, wie er sagte, eine „Kompilation“ und „Montage“. Und überhaupt: Die Vorwürfe seien „langweilig“.
Wirklich: Langweilig? Angeklickt haben den Film bisher mehr als 100 Millionen Menschen. Im Internet macht sich das Volk über den luxuriösen Kitsch lustig. Und Nawalnys Anhänger rufen am Sonntag zur „Aquadisco“ vor der Lubjanka, dem FSB-Gebäude im Zentrum Moskaus.
Was im Westen undenkbar wäre: In Russland führen die gut dokumentierten Vorwürfe bisher zu keinen Ermittlungen. Der die staatlichen Institutionen kontrollierende Kreml kann so tun, als spüre er die Wucht der Erschütterung nicht. „Man schätzt, dass man die Krise regeln kann“, gibt im Gespräch mit dem Tageblatt die russische Politik-Expertin Tatjana Stanowaja die Sicht der Staatsspitze wider.
Warnung an Medien, Druck auf Schüler
Die Krise regeln, das bedeutet für den Kreml in erster Hinsicht: gegen Nawalny und seine Anhänger vorzugehen. Sie gelten als Störenfriede, verantwortlich für die Spannungen. Stanowaja erwartet deshalb eine harte Antwort des Staates. Zu bemerken sei schon jetzt – nach der ersten Protestaktion – ein „synchrones“ Handeln der Institutionen. „Jeder macht seine Arbeit.“ Eine Vielzahl an Strafverfahren ist in Vorbereitung gegen einfache Demonstrationsteilnehmer. Den mutmaßlichen Organisatoren des Protests wird ein Verstoß gegen die Corona-Maßnahmen vorgeworfen.
Stanowaja sieht diese Vorgänge nur als „Präludium“ zu schwerwiegenden Anschuldigungen wie etwa dem Aufruf zu Massenunruhen. Auch an der Medienfront ist der Staat tätig: Warnungen an soziale Medien, wie sie wiederholt ergingen, könnten nur der Anfang sein. Zensur ganzer Internetseiten gilt als nicht mehr ausgeschlossen. Auch liberalen Medien, die in den Augen der Sicherheitskräfte zu freundlich über die Proteste berichten, könnte der Lizenzentzug drohen. Im Zusammenhang mit der Radiostation Echo Moskwy gab es bereits entsprechende Gerüchte. Parallel dazu wird die „Aufklärungsarbeit“ an Schulen und Universitäten verstärkt. Pädagogen werden in die Pflicht genommen, junge Menschen vom Protestbesuch abzuhalten. Notfalls mit der Androhung schlechter Noten oder der Abmeldung vom Studium.
Man geht davon aus, dass Putin das Recht auf so einen Palast hat – die Elite lebt ja sowieso in LuxusPolitikwissenschaftlerin
Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht freilich Nawalny selbst. „Innerhalb der Staatsmacht wird praktisch nicht infrage gestellt, dass er für viele Jahre hinter Gitter muss“, sagt Stanowaja. Insbesondere für den Inlandsgeheimdienst FSB sei eine Gefängnisstrafe nach der verunglückten Vergiftung „eine Frage der Ehre“. Der FSB kümmere sich nicht um politische Konsequenzen. Stanowaja vertritt wie andere russische Beobachter die These, dass die Eskalation zwischen Kreml und Nawalny auf den gesteigerten Einfluss der Silowiki, der Geheimdienst- und Sicherheitskreise, zurückzuführen sei.
Tatsächlich wurde Nawalnys Stand im politischen Leben in den letzten Jahren immer prekärer, die Beziehung zu den Strukturen immer toxischer. Nach seinem Erfolg bei der Bürgermeisterwahl 2013 (er wurde nach dem Kreml-Kandidaten Sergej Sobjanin Zweiter) wurde der Politiker zu keiner Wahl mehr zugelassen. Nawalny wurde so notgedrungen Aktivist der außerparlamentarischen Opposition. Man überschüttete ihn mit Propaganda, deckte ihn mit Verfahren ein. Doch er gab nicht auf. Dann kam der FSB mit seinen verbrecherischen Methoden ins Spiel.
Nawalnys Überleben, seine Kontakte zu westlichen Politikern und seine als Kampfansage inszenierte Rückkehr ist für die Silowiki eine Kriegserklärung. Auch in konservativen Teilen der Elite sehe man das so: „Man betrachtet ihn als Feind Russlands“, sagt Stanowaja. „Oder als Instrument im Kampf des Westens gegen das Land.“ Es ist ein Teufelskreis: Je mehr der Westen sich auf Nawalnys Seite stellt, desto mehr sehen sich diese Kräfte in ihrer Annahme bestätigt.
Putin muss etwas anderes fürchten als die Proteste
Dass auch liberalere Teile der Elite zu der Causa schweigen, sei wenig verwunderlich, sagt Stanowaja: „Damit würde man sich verdächtig machen: Sympathisiert die Person etwa mit Nawalny?“ Da das Thema so stark polarisiere, könne man auf eine Eliten-Spaltung in dieser Frage nicht hoffen. „Ich höre sehr oft: Warum provoziert Nawalny die Staatsmacht? Warum ist er zurückgekehrt?“ Während für die russische Gesellschaft die Nawalny-Doku bekannte Ungerechtigkeiten freilegt, sei ihr Effekt auf die Elite beschränkt, glaubt Stanowaja. „Man geht davon aus, dass Putin das Recht auf so einen Palast hat.“ Niemand sei deswegen schockiert. „Die Elite lebt ja sowieso in Luxus.“
Die Proteste können dem System Putin nicht richtig gefährlich werden, schätzt Stanowaja. Gefährlich sei eine andere Entwicklung, die schon länger im Gange sei und am besten als langsamer Legitimitätsverlust beschrieben werden kann. Kurz gesagt: Der Präsident schafft es immer weniger, die Gesellschaft hinter sich zu versammeln. Putin habe „seinen Status als nationaler Leader verloren“, sagt Stanowaja. Mehrere Aspekte spielen hier eine Rolle: die verhasste Pensionsreform und die umstrittene Amtszeit-Verlängerung des Kreml-Chefs, Wirtschaftskrise und mangelnde Aussicht auf Aufschwung, Putins schrittweise Distanzierung vom Volk, die die Nawalny-Doku eindrücklich unterstreicht. Stanowaja: „Vor diesen Prozessen verschließt der Staat die Augen – und das ist ein Problem.“
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