DeutschlandExperten ziehen kritische Bilanz zur deutschen Einheit und geben Handlungsempfehlungen

Deutschland / Experten ziehen kritische Bilanz zur deutschen Einheit und geben Handlungsempfehlungen
Der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident und Vorsitzende der Regierungskommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, Matthias Platzeck, präsentierte den Bericht Foto: Jörg Carstensen/dpa

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Nach einer aktuellen Umfrage halten 82 Prozent der Ostdeutschen und 62 Prozent der Westdeutschen die Anerkennung ostdeutscher Lebensleistungen im Interesse des weiteren deutsch-deutschen Zusammenwachsens für wichtig. Zwei von drei Bundesbürgern in Ost und West sehen in der Einheit eher einen Gewinn.

In Auftrag gegeben wurde die Erhebung von der 2019 ins Leben gerufenen Regierungskommission „30 Jahre Friedliche und Deutsche Einheit“. Am Montag legten die rund 20 Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Kultur ihre Empfehlungen vor, um die noch immer vorhandenen strukturellen Ungleichheiten abzubauen. Dazu zählen mehr ostdeutsche Präsenz in Führungsjobs, weitere Gedenktage und ein „Zukunftszentrum“.

Woran hakt es bei der Einheit noch besonders? Der wirtschaftliche Umbruch besonders in den ersten Jahren nach der Wiederveinigung hat nach den Worten des Kommissionschefs und ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten, Matthias Platzeck (SPD), große Verwerfungen hinterlassen. So hätten allein bis 1993 rund zwei Drittel der Ostdeutschen ihren angestammten Arbeitsplatz verloren, in höheren Leistungsebenen sogar 90 Prozent. Eine Folge ist, dass Ostdeutsche in Führungspositionen bis heute stark unterrepräsentiert sind. Nur drei bis acht Prozent dieser Jobs sind durch sie besetzt, obwohl der Bevölkerungsanteil der Ostdeutschen etwa 17 Prozent ausmacht. Besonders groß ist das Defizit in Justiz, Wirtschaft und Bundeswehr. Hier gibt es nur ein bis zwei Prozent Ostdeutsche in Führungsjobs.

Wer gilt eigentlich als „Ostdeutscher“? Nach längerer Debatte hatte sich die Kommission darauf verständigt, dass unter der Zuschreibung „Ostdeutscher“ alle Bundesbürger zu verstehen sind, die aus dem Gebiet der Ex-DDR stammen und biografisch durch das Leben unter der SED-Herrschaft und den anschließenden Umbrüchen geprägt sind. Das trifft nach Ansicht der Experten auch für diejenigen zu, die nach 1989 geboren wurden „und etwa bis zum Jahr 2000 in ostdeutschen Familien und Lebenswelten aufwuchsen“.

Initiativen für eine stärkere Präsenz Ostdeutscher in Spitzenpositionen dürften allerdings keine neuen Gegensätze begünstigen, heißt es in dem Bericht. Vielmehr müssten auch diejenigen Berücksichtigung finden, die als Westdeutsche „bereits lange Zeit in Ostdeutschland ansässig sind und auch hier wichtige biografische Prägungen erfahren haben“.

Was schlagen die Experten vor? Was die Präsenz von Ostdeutschen in Chefetagen angeht, so beließ es die Kommission lediglich bei einem Appell zur Selbstverpflichtung von Bundes- und Landesregierungen sowie Kommunen, Ostdeutsche „angemessen“ zu berücksichtigen. Eine Quote analog etwa der für Frauen in Führungspositionen fand in der Runde keine Zustimmung. Außerdem wurde vorgeschlagen, den 9. November als Tag der Maueröffnung, aber auch als Tag der Progromnacht 1938 zu einem „Nationalen Gedenktag“ zu machen. Auch solle in Erinnerung an die Massendemonstration 1989 in Leipzig der 9. Oktober als „Tag der Demokratie“ begangen werden. Ob das auch arbeitsfreie Tage sein könnten, wird in dem Bericht nicht thematisiert.

Welche Anregungen gibt es noch? Die Experten regten darüber hinaus den Aufbau eines „Zukunftszentrums“ zur Erforschung der gesellschaftlichen Umbrüche in Ostdeutschland und Osteuropa an. Ein weiterer Punkt: Die öffentlich-rechtlichen Medien sollen die „Sichtbarkeit Ostdeutschlands erhöhen“. Gemeint ist offenbar eine ausgewogenere Darstellung: Die Frage sei, ob der Osten nur vorkomme, wenn es um Rechtsradikalismus gehe oder auch um Erfolge und den Alltag, meinte Platzeck. Das Thema ist auch ein Aspekt im aktuellen Streit um die Anhebung des Rundfunkbeitrags, der in Sachsen-Anhalt eine Regierungskrise ausgelöst hat.