WeißrusslandErste Risse in den Stützen von Lukaschenkos System

Weißrussland / Erste Risse in den Stützen von Lukaschenkos System
Botschafter vor allem aus europäischen Staaten, mit an der Spitze dem Vertreter der Europäischen Union in Belarus, Dirk Schuebel (M.), unterstützten gestern indirekt die Proteste, indem sie sich zu dem Ort begaben, an dem ein Demonstrant am Montag gestorben ist Foto: AFP/Sergei Gapon

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In Weißrussland gewinnen die Proteste trotz massiver Repressionen immer mehr Zulauf. In Dutzenden von Städten bildeten weiß gekleidete Frauen schon in den Morgenstunden Menschenketten gegen die Gewalt der Sicherheitskräfte.

„Wir sind keine Schafe, sind nicht drogensüchtig und sind nicht arbeitslos“, stand auf manchen Mini-Transparenten. Mit solchen Worten hatte der Autokrat Alexander Lukaschenko den Wahlstab der inzwischen nach Litauen geflüchteten Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskajas und die Demonstranten beschimpft. Selbst vor dem Palast der Republik auf dem zentralen Oktoberplatz im Minsker Regierungsviertel konnte sich am Donnerstag eine solche Frauen-Solidaritätsmauer bilden. Bereits am Nachmittag formierten sich daraus erste Demonstrationszüge.

Inzwischen zeigen sich auch deutliche Risse in den Stützen von Lukaschenkos System. Die Biathlon-Olympiasiegerin und KGB-Offizierin Daria Dombratschewa veröffentlichte auf Instagram einen Aufruf zum Gewaltverzicht an die Sicherheitskräfte. „Stoppt die Gewalt! Erlaubt es nicht, dass dieser ungerechte Horror auf unseren Straßen weitergeht“, schrieb sie. Am Donnerstag veröffentlichte Wladimir Borodatsch, Oberst der Speznas-Sondertruppen, einen ähnlichen Aufruf. Darin bezeichnete er Lukaschenko als „Verbrecher“ und machte ihn für den Bombenanschlag auf die Minsker Metro von 2011 verantwortlich. Borodatsch behauptete, er verfüge über Beweise, die er gerne vor Gericht vorlegen würde. 15 Personen kamen am 11. April 2011 bei dem Anschlag in der U-Bahnhaltestelle „Oktoberplatz“ ums Leben, zwei angebliche Bombenleger wurden Ende 2011 per Genickschuss hingerichtet.

Neben Borodatsch haben mehrere Speznas-Mitglieder und auch gewöhnliche Polizisten inzwischen ihre Uniformen aus Protest verbrannt oder in den Müll geworfen, was sie jeweils auf kurzen Videoaufnahmen dokumentierten und auf Telegram-Kanäle stellten. Auch haben mindestens sechs bekannte Journalisten des Weißrussischen Staatsfernsehens ihre Stellen aus Protest gekündigt.

Immer mehr Betriebe streiken

Zu erwarten war dagegen der späte, aber scharfe Protest der mit der Opposition sympathisierenden Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Aleksiewitsch. „Trete zurück, bevor du dein Volk in den Abgrund des Bürgerkriegs getrieben hast“, riet sie Lukaschenko in einem Interview.

Drei Tage nach dem Oppositionsaufruf zum Generalstreik werden die Arbeitsniederlegungen für die angeschlagene weißrussische Wirtschaft bedrohlicher. Streikten ab Dienstag vor allem kleinere Staatsfirmen, so ist am Donnerstag mit dem Speziallastwagenhersteller „Belaz“ in Schodsina eine der größten Firmen des Landes in den Streik getreten. Tausende Arbeiter zogen am Mittag aus Protest gegen die Gewaltwelle in die Stadt und forderten den Rückzug der Sicherheitskräfte und die Ausschreibung vorgezogener Präsidentenwahlen. Auch in den beiden Minsker Kombinaten MAZ und MTS (je rund 18.000 Angestellte) streikten Hunderte von Arbeitern und forderten Lukaschenkos Rücktritt, Neuwahlen und das Ende der Polizeigewalt. In Minsk drohten 500 bekannte IT-Unternehmer mit der Verlegung ihrer Firmen ins Ausland, wenn die Gewalt gegen friedliche Demonstranten weiterginge.

Trete zurück, bevor du dein Volk in den Abgrund des Bürgerkriegs getrieben hast

Swetlana Aleksiewitsch, Literatur-Nobelpreisträgerin

Die staatliche Wahlkommission hat derweil am Donnerstag entgegen ihrer Ankündigung kein offizielles Wahlergebnis veröffentlicht. Einzig für die Stadt Minsk liege das Endergebnis vor, hieß es ausweichend. Lukaschenko hat demnach 64,5 Prozent der Stimmen erobert, Tichanowskaja 14,9 Prozent. Auf ähnliche Zahlen landesweit, allerdings in umgekehrter Reihenfolge kommt die vorläufige Parallelauszählung der unabhängigen Wählerorganisation „Ehrliche Menschen“.

Laut offiziellen Zahlen des Innenministeriums wurden in der Nacht auf Donnerstag über 700 Demonstranten festgenommen. „Die Proteste sind nicht mehr friedlich“, klagte das Ministerium und berichtete, erneut seien Sicherheitskräfte zum Einsatz von Schusswaffen mit scharfer Munition gezwungen worden. Offiziell bestätigt wurde auch der Tod eines zweiten Demonstranten. Es handelt sich um einen 25-Jährigen in der ostweißrussischen Stadt Gomel. Aus Minsk berichteten Augenzeugen von Festnahmen in kleineren Gruppen als am Vortag, aber auch Schüssen mit Gummischrot auf Balkone, auf denen sich mit den Demonstranten solidarisierende Bürger versammelt hatten.

In den frühen Morgenstunden wurden in Minsk rund hundert Gefangene der gefürchteten U-Haftanstalt an der Akrestina-Straße freigelassen. In Provinzstädten sollen teils mehr Gefangene freigekommen sein. Grund könnten die überfüllten Gefängnisse sein, aber auch das EU-Außenministertreffen vom heutigen Freitag, das über Sanktionen gegen Weißrussland beraten soll.