CoronavirusErst Musterschüler, jetzt Sorgenkind: Wie Mittel- und Osteuropa mit der zweiten Welle kämpft

Coronavirus / Erst Musterschüler, jetzt Sorgenkind: Wie Mittel- und Osteuropa mit der zweiten Welle kämpft
Vom NATO-Gipfelort zum Feldlazarett: Im Warschauer Nationalstadion soll ein provisorisches Krankenhaus für Corona-Patienten eingerichtet werden Foto: dpa/Leszek Szymanski

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Fast alle Staaten Mittel- und Osteuropas kämpfen gegen rasant steigende Infektionszahlen an. In Polen sollen bis zu 80.000 provisorische Betten im Fußballstadion möglich werden. Viele Ärzte der Region arbeiten längst in den reichen Staaten Westeuropas.

Im polnischen Nationalstadion soll bis Ende dieser Woche das erste Corona-Feldlazarett in Betrieb genommen werden. Das für die Fußball-EM 2012 erbaute Stadion mit 60.000 Zuschauerplätzen hatte in seinem Innern bereits einen NATO-Gipfel (2016) und UNO-Klimaverhandlungen (2013) beherbergt, nun wird es zu einem Corona-Spital umgebaut. Fußballspiele könnten weiterhin gleichzeitig stattfinden, berichteten Sportfunktionäre. Laut dem unabhängigen Privatfernsehen TVN soll Kanzleichef Michal Dworczyk (PiS) für die Umgestaltung verantwortlich zeichnen. Eingerichtet wird das Corona-Lazarett mit anfänglich 500 Betten von der Armee.

Auch in weiteren regionalen Zentren sollen Fußballstadien vorübergehend in Corona-Feldlazarette umgebaut werden. Laut Regierungsangaben könnten so bis zu 80.000 zusätzliche Spitalbetten besorgt werden. In den letzten sieben Tagen kam es zu fast 50.000 Corona-Neuinfektionen. Viele Infizierte müssen indes nicht hospitalisiert werden. Im Spital befanden sich deswegen am Montag knapp über 8.000 Corona-Patienten. Die offizielle Bettenauslastung lag bei 62 Prozent.

Jaroslaw Kaczynskis Regierung versucht mit dem Schritt der seit Ende September besonders rasant angewachsenen Corona-Infektionen Herr zu werden. Zuvor hieß es im PiS-Gesundheitsministerium lange, Polen hätte keine dramatische zweite Corona-Welle zu befürchten, der Pandemieverlauf sei Dank Abwehrmaßnahmen der Regierung viel flacher. Inzwischen ist Polen indes binnen weniger Tage bei besorgniserregenden 130 Infizierten auf 100.000 Einwohner angekommen, einem der Spitzenwerte in Mittelosteuropa. Einzig Tschechien, die Slowakei und Moldawien liegen noch höher.

Die Gesundheitswesen aller ehemaliger Transformationsländer Mittelosteuropas werden durch Corona besonders stark herausgefordert, denn der Sektor ist seit der Wende total unterfinanziert. Ärzte verdienen wie zu kommunistischen Zeiten weit unter dem Landesdurchschnitt; Spitäler und Gesundheitsversicherungen sind immer noch staatlich. Bürokratie wie zu kommunistischen Zeiten verschlingt Unmengen von dringend benötigtem Geld und Manpower. Alle osteuropäischen EU-Mitglieder leiden zudem von einer Abwanderung der Mediziner und Krankenschwestern in alte EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen, Island und die Schweiz.

Hoher Preis für frühe Öffnungen

Deshalb war im Frühling bei der ersten Corona-Welle allen klar, dass das bereits ohne Corona tendenziell überlastete Gesundheitssystem schnell an seine Grenzen kommen wird. Tschechien und Polen gehörten so zu den ersten Ländern, die einen kompletten Lockdown beschlossen hatten. Beide Regierungen gingen indes aus politischen Gründen im Sommer sehr schnell zur Vor-Corona-Tagesordnung über. Vor allem das bei Touristen beliebte Tschechien zahlt dafür nun einen hohen Preis. In dem Zehn-Millionen-Einwohnerland kommt es mittlerweile zu rund 10.000 Neuansteckungen pro Tag.

Auf Tschechien mit 515 Corona-Fällen pro 100.000 Einwohner folgen am Montag die Slowakei und Moldawien (je 183 Fälle), Polen (130), Rumänien (129), die Ukraine (94), Ungarn (88) und Bulgarien (68). Eher gut stand einzig das Baltikum mit zwischen 16 (Estland) und 50 Fällen (Litauen) da. Das autokratisch vom Corona-Leugner Alexander Lukaschenko regierte Belarus, das keine Social-Distancing-Maßnahmen einführte und auch keine Schulen schloss, hat offiziell ebenfalls nur 44 Corona-Fälle auf 100.000 Einwohner. Diese Zahlen sind allerdings mit großer Vorsicht zu genießen.

Vor allem in Tschechien und Polen regt sich inzwischen – wie auch in den westlichen EU-Staaten – Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen. Während sich die Proteste in Polen noch in Grenzen halten, kam es in der tschechischen Hauptstadt Prag in der Nacht um Montag zu wüsten Ausschreitungen zwischen rechtsextremen Demonstranten aus dem Milieu der Fußball und Eishockey-Hooliganszene und der Polizei. Dabei gab es 20 Verletzte; rund 100 Demonstranten wurden festgenommen.

Sowohl der umstrittene tschechische Premierminister Andrei Babis wie auch Mateusz Morawiecki in Polen kommen wegen ihrer verspäteten Anti-Corona-Maßnahmen unter Druck. In Polen war die rechtspopulistische Kaczynski-Koalition monatelang mit inneren Flügelkämpfen beschäftigt, an Corona dachte keiner mehr.