Corona in Bosnien und Herzegowina / Die überarbeiteten Totengräber von Sarajevo

„Einfach niederschmetternd“: Desinfektion von Särgen in Sarajevos improvisierter Leichenhalle
Wenigstens im Leid ist der zerrissene Vielvölkerstaat geeint. In Bosnien und Herzegowina schnellt die Zahl der Corona-Toten nach oben – und kommen die Massenimpfungen wegen des fehlenden Impfstoffs kaum in Gang.
Zumindest der Boden der Totenacker in Sarajevo ist nach dem eiskalten März nicht mehr gefroren. Geduldig warten Dutzende von Menschen vor dem kommunalen Bestattungsunternehmen „Pokop“ in Bosniens Hauptstadt auf einen Termin zur Bestattung ihrer Angehörigen. Über einen „ungeheuren Druck“ auf seine übermüdeten Mitarbeiter klagt gegenüber den heimischen Medien seit Tagen Pokop-Direktor Goran Ceric: „Der Gesundheitssektor ist am Ende seiner Kräfte und das bekommen auch wir zu spüren: Unsere Leute arbeiten 24 Stunden am Tag.“
Die Warteschlangen vor den Friedhöfen würden immer größer, berichtet niedergeschlagen das Webportal der Zeitung Dnevni Avaz: „Die Totengräber kommen mit der Bestattung der Verstorbenen kaum mehr nach.“ Das größte Problem sei die Aufbewahrung der neu angelieferten Verstorbenen, so Ceric: „In unserer improvisierten Leichenhalle befinden sich ständig mindestens 40 Tote. Es ist einfach niederschmetternd.“ Sarajevo sei in Bosnien der „größte Hotspot“ der dritten Infektionswelle: „Und wir sind die Zeugen davon, wie sich die Zahl der Todesfälle ständig mehrt.“
60 Prozent mehr Tote – und dann kam die dritte Welle
In den Jahren vor der Corona-Epidemie wurden in der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina normalerweise jährlich zwischen 950 und 1.050 Verstorbene zu Grabe getragen. Schon im ersten Coronajahr 2020 stieg diese Zahl laut Radio Sarajevo um rund 60 Prozent auf 1.669 an. Doch nun hat die dritte Infektionswelle der Epidemie nicht nur die Kesselstadt, sondern ganz Bosnien mit voller Wucht erwischt.
Das Virus kennt keine Teilstaatsgrenzen. Landesweit ist die Sieben-Tage-Inzidenz auf mittlerweile 348 geklettert: In der Hauptstadt beträgt sie mehr als das Doppelte. Allein im März verstarben in Sarajevo über 600, in Bosnien 1.555 Menschen an den Folgen einer Corona-Infektion: Laut Out World in Data weist der Vielvölkerstaat damit nach Ungarn derzeit Europas höchste Todesrate gemessen an der Bevölkerung auf.
Die Lage sei zwar „alarmierend“, aber von einem „neuen Bergamo“ könne keine Rede sein, versichert Haris Vranic, der Gesundheitsminister im Kanton Sarajevo. Doch die dysfunktionale Verwaltung im verschachtelten Vielvölkerstaat hat die Folgen der Corona-Krise noch verschärft. Die diversen Krisenstäbe wursteln scheinbar ohne größere Abstimmung vor sich hin. Stattdessen schieben sich Kanton-, Teilstaat- und Zentralregierung gegenseitig den schwarzen Peter für die Missstände in den Covid-Kliniken oder die Endlospannen bei der Beschaffung des sehnsüchtig erwarteten Impfstoff zu.
Kliniken klagen über Mangel an Sauerstoffflaschen
Die überfüllten Covid-Kliniken klagen zunehmend über den Mangel an Sauerstoffflaschen. Gleichzeitig sind bisher nur wenige zehntausend Impfdosen als Spenden ins Land gelangt. Zu lange haben sich Zentral- und Teilstaatregierungen auf die zwar bezahlten, aber immer wieder aufgeschobenen Impfstofflieferungen aus dem Covax- oder dem EU-Verteilermechanismus verlassen. In den internationalen Vergleichsstatistiken ist die Impfrate Bosniens im Gegensatz zu der in Bangladesch oder Bhutan nicht einmal erfasst: Noch immer haben die Massenimpfungen in Sarajevo nicht begonnen.
Wenn wir nicht wollen, dass die Leute wie in Bergamo auf den Straßen sterben, müssen wir Impfstoff beschaffenEpidemiologe
Mit der Verlängerung des Lockdowns versuchen die überforderten Behörden, die Ausbreitung der Epidemie abzubremsen. Um die Pandemie zu stoppen, müssten rund zwei der 3,3 Millionen Bosnier geimpft werden, warnt der Epidemiologe Jasenko Karamehic. Doch die Situation sei „außer Kontrolle geraten“: „Wenn wir nicht wollen, dass die Leute wie in Bergamo auf den Straßen sterben, müssen wir Impfstoff beschaffen.“
Nicht nur die lange eher laxe Befolgung der Präventivmaßnahmen hat die Epidemie verschärft. Ein ungekannt großer Andrang wurde in diesem Winter in den Ski-Ressorts rund um Sarajevo registriert: Zur Ankurbelung des Wintertourismus wurden nicht nur zu früh die Auflagen für die Gastronomie gelockert, sondern mussten aus den Nachbarländern anreisende Ski-Enthusiasten an den Grenzen weder einen PCR-Test vorlegen noch ihre Körpertemperatur überprüfen lassen. Einerseits habe jeder ohne jegliche Art der Kontrolle nach Bosnien ein- und ausreisen können, andererseits sei die Koordination zwischen den diversen Verwaltungsebenen einfach „schlecht“, klagt Karamehic: „Und dafür zahlen wir nun einen hohen Preis.“
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