Die Frage nach der Schmerzgrenze

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Wolfgang Pusztai gilt weltweit als einer der renommiertesten Libyen- Experten. Pusztai war Militär-Attaché in der Region. Seit Jahren analysiert er die politische Lage und die Sicherheitslage in dem Land und der Region. Für manche seiner Überlegungen wurde er bereits heftig kritisiert. Dabei ist der Mann, der auch Oberst in der österreichischen Armee ist, ein Analytiker, der kühl überlegt und das Land, seine Leute und seine Anführer aus dem Effeff kennt.

Tageblatt: Kann Libyen noch als funktionierender Staat bezeichnet werden?
Wolfgang Pusztai: Das ist die Frage, was man als funktionierenden Staat oder als Failed State definiert. Wenn man sagt, man braucht dazu eine zentrale Regierung, die zumindest die Masse des Landes unter Kontrolle hat, dann ist Libyen mit Sicherheit kein funktionierender Staat und als Failed State einzuordnen. Wenn man sagt, es genügt, dass man eine Regierung hat und ein Parlament hat, dann ist Libyen kein Failed State, denn die haben drei Regierungen, von denen jede mit einer gewissen Rechtfertigung behaupten kann, dass sie die legitime ist, und zwei Parlamente.

Rechnen Sie denn damit, dass Libyen dem Chaos bald entkommen können wird?
Der entscheidende Zeitpunkt für Libyen wird im dritten Quartal dieses Jahres sein. Aus mehreren Gründen, ich analysiere da mehrere Risiko-Indikatoren, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir gegen Ende dieses Jahres sehen werden, ob Libyen eine Chance haben wird, sich zu stabilisieren – oder ob es weiter flach nach unten geht. Zurzeit erscheint es mir wahrscheinlicher, dass Libyen in einem gewalttätigen, richtigen Bürgerkrieg auseinanderbrechen wird.

Was könnte doch zu Stabilität führen?
Dazu gibt es zwei Möglichkeiten. Die erste ist, dass die Wahlen, die vom französischen Staatspräsidenten Macron im Zuge des Paris-Gipfels im vergangenen Sommer vermittelt worden sind, erfolgreich sind. Diese Wahlen werden auch vom UN-Sonderbeauftragten Ghassan Salamé massiv und von allen wichtigen Konfliktparteien in Libyen aus unterschiedlichen Gründen unterstützt. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Wahlen allerdings funktionieren und eine echte Stabilisierung bringen, ist gering. Libyen hat 4,5 Millionen Personen im Wahlalter. Die Wahlbeteiligung bei den ersten Wahlen 2012 lag bei 44. Im Jahr 2014 waren es nur mehr elf Prozent. Zurzeit haben sich rund zweieinhalb Millionen Libyer registrieren lassen für die Wahlen. Selbst wenn die Hälfte dieser Personen an den Wahlen teilnehmen würde, hätte man knapp mehr als eine Million Wähler aus 4,5 Millionen Wahlberechtigten. Das ist für die Legitimität des Ergebnisses nicht optimal. Der zweite Punkt ist, es müsste einen eindeutigen Sieger geben. Sobald es so ist wie jetzt, dass nicht wirklich klar ist, wer die Wahlen gewonnen hat, ist die Wahrscheinlichkeit, dass man nach Wahlen mehr Probleme haben wird als vorher, größer.

Ist es überhaupt möglich, das Land unter Fayiz as-Sarradsch, dem Verbündeten des Westens, oder Chalifa Haftar zu einigen?
Sarradsch hat praktisch keine Machtbasis im Land. Er überlebt in Tripolis aufgrund des Umstandes, dass ihn die mächtigen Milizen dort tolerieren. Sie akzeptieren ihn, weil er in ihre Geschäfte nicht hineinfunken kann, etwa beim Menschenschmuggel. Bei Haftar ist das etwas anders. Haftar ist im Osten der dominierende Mann. Allerdings ist er extrem polarisierend. Im Osten ist er der Held für die Bevölkerung, weil er den islamistischen Terror in Bengasi beendet hat. Im Westen ist er das genaue Gegenteil. In Misrata wird er erbittert abgelehnt, weil viele aus Misrata in Bengasi gegen ihn gekämpft haben. Dazu kommt, dass gewisse islamistische Milizen ihre Machtbasis in Misrata haben bzw. gehabt haben und diese quasi der rückwärtige Versorgungsstützpunkt für den Kampf um Bengasi waren.

Das hört sich nach einer Sackgasse an. Gibt es keine anderen Wege?
Ein theoretischer Ansatz wäre, dass man sich von dem derzeitigen UN-Ansatz mit dem „Libya Political Agreement“, mit dieser zentralen Regierung, die aus Tripolis heraus im Land Ordnung schaffen soll, verabschiedet und zu einem dezentralen Ansatz übergeht. Es gab selbst 2011 und es wird auch in Zukunft keine Person in Libyen geben, die breit anerkannt ist im Osten, im Westen, im Süden. Es gibt jedoch Personen, die eine gewisse Machtbasis im Osten, im Süden, im Westen des Landes haben. Aus meiner Sicht wäre es erforderlich, einen dezentralen Ansatz zu planen, das Land auf der Basis der alten Verfassung aus dem Jahr 1951 so zu stabilisieren, dass man in den einzelnen Provinzen einen gewissen Grad an Stabilität erreicht. Erst dann sollte man daran gehen, eine endgültige Verfassung zu schaffen und anfangen, das Land wieder zusammenzuzimmern.

Kann Libyen in seinem momentanen Zustand Europa als Partner in der Migrationsfrage dienen?
Nicht wirklich. Der jüngst veröffentlichte Expertenbericht für den UN-Sicherheitsrat, der in Teilen an die Medien geleakt worden ist, hält fest, dass Teile von Milizen, die sich dem Innenministerium zugehörig fühlen und zum Innenministerium gehören, an dem Menschenschmuggel beteiligt sind. Und das stimmt ja auch, das ist ein offenes Geheimnis in Libyen, schon seit einiger Zeit. Das heißt, dass die Regierung Sarradsch, die jetzt der internationale Partner ist, nicht einmal Herr in Tripolis ist. Geschweige denn, dass sie irgendwelche Grenzen im Süden kontrolliert oder sonst wo im Land irgendwelchen Einfluss hätte.

Trotzdem unterstützen Italien und die EU die libysche Küstenwache in Tripolis. Wie passt das zusammen?
Diese Küstenwache, die zurzeit von den Italienern und der EU unterstützt wird und in Abu-Sitta, dem Hafen von Tripolis, liegt, ist die halbwegs funktionierende. Die anderen Küstenwachen sind Milizen, die halt auch auf das Meer hinausfahren und sagen: Wir sind Küstenwache. Die Küstenwache aus Tripolis ist einer der Gründe, warum die Anzahl der Migranten, die von Libyen nach Europa kommen, seit Sommer zurückgegangen ist. Diese Küstenwache hat schon zu Gaddafis Zeiten von den Italienern vier größere Patrouillenboote bekommen, die jetzt wiederum funktionsfähig sind und mit denen sie in der Lage sind, die Küste von der tunesischen Grenze bis in den Raum Misrata zu patrouillieren.

Was halten Sie von der Zahl der 800.000 Migranten, die in Libyen darauf warten sollen, nach Europa zu kommen?
Die Zahl 800.000 könnte die Anzahl der Schwarzafrikaner umfassen, die zu diesem Zeitpunkt in Libyen waren. Inwieweit die alle nach Europa wollen, ist schwer zu sagen, es sind ja auch viele Gastarbeiter darunter. Diejenigen, die nach Europa wollen, schätze ich auf wesentlich weniger ein. Ich gehe von einem Bereich um die 200.000 aus. Ich weiß auch nicht, wo man 800.000 Migranten oder eine Million zwischen der tunesischen Grenze und Misrata verstecken könnte.

Ist der radikale Islam eine große Gefahr in Libyen?
Der radikale Islam in Libyen sollte für die umliegenden Staaten und für die Europäer sowie für die Amerikaner der Hauptgrund sein, warum man das Land stabilisieren will. Wenn man es realpolitisch betrachtet: Solange dort vor Ort ein Bürgerkrieg auf kleiner Flamme herrscht, ist es zwar tragisch, aber es gibt Bürgerkriege, die blutiger sind. Das Problem ist dann gegeben, wenn der radikale Islam es schafft, wenn dschihadistische Gruppen wie der IS oder Al-Kaida im Maghreb es schaffen, eine Machtbasis, einen sicheren Rückzugsort einzurichten, von dem aus sie die Region destabilisieren können.

Wie strahlt Libyen auf seine sechs Nachbarstaaten aus?
Zurzeit strahlt Libyen vor allem wirtschaftlich negativ aus. Weil Länder wie Ägypten oder Tunesien unter Gaddafi aus Libyen billiges Öl bezogen haben. Und weil Hunderttausende Tunesier und fast eine Million Ägypter in Libyen als Gastarbeiter tätig waren und jede Menge Gelder nach Hause überwiesen haben. Diese Personen, die dort als Gastarbeiter tätig gewesen sind, kommen aus beiden Ländern in erster Linie aus der unteren Schicht. Das war also ein ganz wichtiges Element für die soziale Stabilität, insbesondere in Tunesien. Der zweite Aspekt ist der Dschihadismus. Das betrifft die Ägypter stärker. Verschiedene IS-nahe Gruppen, die in Ägypten tätig sind, nutzen zum Beispiel die Stadt Darna in Libyen als Rückzugsort und als Ausgangsbasis. Das ist der Hauptgrund, warum die Ägypter in Libyen derartig aktiv sind: Sie wollen um jeden Preis verhindern, dass diese radikalislamistischen Milizen sich dort endgültig festsetzen können. Für Tunesien ist Libyen an erster Stelle das Durchgangsland für die jungen Tunesier, die in den Dschihad in den Mittleren Osten ziehen und für diejenigen, die zurückkommen.

Lässt sich der Schmuggel, der in Libyen grassiert und die Strukturen untergräbt, nicht beenden?
Der Schmuggel hat eine erhebliche Bedeutung für die diversen Parteien in Libyen, aber auch für die Nachbarländer. Im Süden Tunesiens lebt ein großer Teil der Bevölkerung vom Schmuggelgeschäft, dort ist der Treibstoff, der aus Libyen kommt, billiger am Markt als der, der von den staatlichen Raffinerien in Tunesien kommt. Wenn man den Schmuggel von einem Tag auf den anderen abdrehen würde, wäre das auch ein Problem für die Nachbarstaaten. Es gibt Überlegungen, dass man die Preisstützungen, die man in Libyen zahlt, an Personen überweist. Ich stütze dann nicht mehr den Sprit, sondern zahle jedem Libyer eine gewisse Summe, damit er sich den höheren Preis leisten kann. Das wäre ein Ansatz. Es bleibt aber die Frage, ob die Milizen in Tripolis das erlauben würden.

Wie in Syrien ist die Türkei auch in Libyen aktiv. Auch Katar und vor allem die Vereinigten Arabischen Emirate mischen kräftig mit. Wen unterstützen diese Länder in Libyen?
Seit 2011 werden bestimmte Islamistengruppen von Katar und der Türkei unterstützt. Zurzeit liegt der Fokus dieser Unterstützung auf moderateren bis radikaleren islamistischen Milizen im Großraum Misrata und im Großraum Tripolis. Das äußert sich durch die Lieferung von logistischen Gütern bis hin zu gepanzerten Fahrzeugen und geht auch in die medizinische Unterstützung hinein. Sehr viele Kämpfer, die in Bengasi verwundet wurden, sind über Misrata in die Türkei evakuiert worden.

Auch der Westen ist in Libyen militärisch präsent, Russland ebenfalls. Droht der nächste ausgewachsene Stellvertreterkrieg?
Ich sehe die Gefahr einer direkten Intervention der Nachbarstaaten, wenn bestimmte rote Linien nicht überschritten werden, fürs Erste nicht. Ägypten würde jedenfalls, auch mit direkter umfangreicher Waffengewalt, das Entstehen eines radikalislamistischen Staates an der Westgrenze verhindern. Kleinere Unterstützungen, zeitweilige Luftangriffe, Sondereinsätze etc. finden ja jetzt schon statt. Ich glaube also nicht, dass sich die Nachbarn direkt und offen mit Truppen einmischen würden – mit der Ausnahme der VAE, die schon einen Luftwaffenstützpunkt im Osten von Libyen betreiben, wo sie mit Turboprop, leichten Erdkampfflugzeugen, Luftunterstützungseinsätze für die Truppen von Haftar vor allem in der Nacht sehr effizient fliegen. Die Einflussnahme aus dem Ausland ist ja bestimmten Interessen unterworfen: Sicherheitsinteressen, wirtschaftliche Interessen etc. Was Katar, die Türkei und die VAE betrifft, sind auch gewisse ideologische Interessen wie die Unterstützung des politischen Islam oder anderer islamistischer Strömungen dominant. Hier wäre es erforderlich, entsprechenden Einfluss auf diese Länder auszuüben, damit die sich entsprechend heraushalten. Das könnte man in dem Sinne nützen, dass man die diversen Affiliaten in Libyen zu lokalen Waffenstillständen drängt, die man über diese Partner aus dem Ausland fördern könnte.

Haben Sie die Hoffnung, dass das möglich ist?
Ich sehe zwei Länder, die hier ernsthaften Einfluss auf alle Nachbarstaaten und alle involvierten Staaten haben könnten: Das eine sind die Amerikaner, die zurzeit allerdings sehr wenig Interesse haben, da sie in Libyen keine vitalen strategischen Interessen für sich sehen. Für die ist Libyen nur im Bereich ihres Krieges gegen den Terror relevant. Und das zweite Land wäre Russland.

Und was machen die Russen?
Die Russen halten Kontakt mit beiden Seiten. Mit Haftar und as-Sarradschs Regierung. Die Russen haben auch zu Misrata eine Gesprächsbasis über verschiedene Moslems in Tschetschenien. Ich würde nicht ausschließen, dass Russland künftig eine stärkere Rolle in Libyen übernimmt.

Was sind die russischen Interessen?
Für die Russen sehe ich zwei geostrategische Hauptstoßrichtungen. Das Erste ist, dass Libyen als zentrales Land im Norden Afrikas eine Ausgangsbasis bietet für das Erweitern des Einflusses in Richtung Sahel und seiner Rohstoffe. Man darf nicht vergessen, dass sowohl Algerien als auch Ägypten bereits sehr eng mit Russland zusammenarbeiten; hier würde es Richtung Süden hinuntergehen. Hinzu kommt, dass der natürliche Hafen von Tobruk einen günstigen Stützpunkt für die russische Mittelmeerflotte bilden würde. Vor allem der russische Flugzeugträger, der voriges Jahr vor Syrien gekreuzt ist, hat im syrischen Hafen Latakia kein ausreichend großes Hafenbecken, dass er dort vor Anker gehen kann – das wäre in Tobruk der Fall. Der zweite Aspekt ist der wirtschaftliche. Die Russen haben in Libyen massiv vor 2011 in den Ausbau von Straßen, der Eisenbahn investiert. Nun wollen sie das Geschäft wiederum ankurbeln. Und sie wollen im wirtschaftlichen Bereich einen gewissen Einfluss auf die libysche Gasproduktion erhalten. Hier ist das strategische Interesse, das ich den Russen mal unterstellen will, ihren Einfluss auf den Gasmarkt in Europa auszuweiten. Man darf aber nicht glauben, dass die großen russischen Produzenten wie Gazprom Befehle von Putin entgegennehmen oder hier Weisungen erfüllen. Nur verstehen die natürlich die russischen geostrategischen Interessen und agieren in dem Sinne.

Im Süden des Landes entflammt noch ein ganz anderer Konflikt …
Die Tuareg und die Tubu, die zu den Ureinwohnern Libyens gehören, haben eine extrem schwierige Lage. Die Tubu waren ein Rückgrat der Revolution und die Tuareg fast bis zuletzt Gaddafi treu ergeben. Was schon einmal die Rivalität zwischen diesen beiden Volksgruppen bedingt. Zum anderen sind sie für die mächtigeren Stämme an der Küste nur bedingt von Interesse. Hier geht es um das Dominieren des Sahara-Handels, hier geht es auch um den Menschenschmuggel, worin beide involviert sind. Sobald es allerdings darum geht, beiden Stämmen echte Rechte in Libyen zu geben, Investitionen in deren Region zu tätigen, hat niemand ein Interesse daran.

Zuletzt wurde spekuliert, dass Haftars Truppen der „Libyan National Army“ einen Angriff auf die von al-Kaida und dem IS nahestehenden Dschihadisten gehaltene Großstadt Darna planen. Wie sehen Sie das?
Darna ist eine Hafenstadt am Rand der grünen Berge. Die Stellungen, die Waffenlager, die Munitionsdepots liegen am Hinterhang. Man kann die mit Artillerie vom Süden aus nur sehr schwer treffen. In Darna kommt man, wenn man von den Bergen hinauskommt, eigentlich gleich in das Häusergewimmel. In Bengasi hatte man die Möglichkeit, aus der Distanz mit Kampfpanzern und Artillerie anzusetzen. Die Libyan National Army (LNA) ist sich dieses Problems bewusst. Nur bestehen die Ägypter darauf, dass man das Problem löst. Aufgrund der Geografie ist es kaum möglich, zu verhindern, dass IS-Anhänger aus Darna heraus operieren. Zum einen gibt es also den Drang, in Darna etwas zu unternehmen. Zum anderen wäre der Häuserkampf in Darna ein sehr, sehr blutiger. Wenn Sie an Sirte oder Misrata denken: Selbst wenn die Ägypter Luftunterstützung fliegen – Darna ist viel größer, vom Gelände her viel schwieriger. Bereits in Misrata hat die LNA ein Fünftel ihrer Kampfstärke verloren. In Darna würden sie so „billig“ nicht davonkommen.

Sie waren 2011 während der Revolution in Libyen. Wie haben Sie die Situation erlebt? Halten Sie den Einsatz der Franzosen und Briten gegen Gaddafi für gerechtfertigt?
Ich war damals unten als österreichischer Verteidigungsattaché und habe mich um die Evakuierung der österreichischen und anderer EU-Bürger gekümmert und war auch nachher ab und zu wieder unten während der Revolution. Das Problem war, dass trotz einer gegenteiligen Weisung von Gaddafi die Sicherheitskräfte innerhalb der ersten Stunden völlig über die Stränge geschlagen haben. In al-Baida, wo die ersten Demonstrationen am 15. Februar stattgefunden haben, hat es innerhalb der ersten Stunden die ersten Toten gegeben. Nun schien es kein Zurück mehr zu geben und Gaddafis Stoßrichtung war, Bengasi einzuschließen und bei Tobruk den Grenzübergang Richtung Ägypten und damit den Sack dichtzumachen. Damit er dann, wie er es formuliert hat, die „Ratten alle umbringen“ kann. Wenn die Franzosen ein, zwei Tage später eingegriffen hätten, wäre es wahrscheinlich schon zu spät gewesen. Weil man in einer Großstadt wie Bengasi einen solchen Vorstoß nicht mehr hätte stoppen können. Der Einsatz war mit Sicherheit gerechtfertigt. Es sei denn, man nimmt ein paar Srebrenicas in Kauf. Wenn man sagt, okay, zehn-, zwanzigtausend Tote, das geht. Es ist die Frage, wo die Schmerzgrenze liegt.

Wirtschaftliche Interessen des Westens gab es keine?
Was immer wieder kolportiert wird, dass wirtschaftliche Interessen dahintergesteckt haben, halte ich für falsch. Fragen Sie Total oder British Petroleum, wann sie mehr Geschäft mit Libyen gemacht haben, unter Gaddafi oder jetzt. Es hat bei den Franzosen sicherlich auch innenpolitische Gründe gegeben, der treibende Grund war aber, nach meiner Beurteilung, der humanitäre Aspekt. Der Fehler war danach, dass man die erste Generation der libyschen Politiker, die ja alle in Amerika oder in Europa studiert haben, echte Koryphäen in ihren Fachgebieten waren oder sind, ernst genommen hat und davon ausgegangen ist, dass die das Land aufbauen können. Was man übersehen hat, ist, dass die zuhause keinen Rückhalt gehabt haben – und bald weg waren.


Warum Libyen wichtig ist

Libyen liegt in der geostrategisch bedeutsamen Lage in der Mitte der wichtigen Mittelmeerroute von der Straße von Gibraltar zum Suezkanal. Es hat selbst nahezu unerschöpfliche Ölreserven.

Das Öl ist von sehr hoher Qualität und kann günstig produziert werden. Platzhirsch ist die italienische Eni, die bereits zu Gaddafis Zeiten den Löwenanteil der Exporte übernommen hat und es auch jetzt noch tut. Die Uranminen in Niger, die für die Franzosen besonders wichtig sind, liegen im Norden des Nachbarlandes Niger in der Nähe zur libyschen Grenze. Die algerischen und ägyptischen Gasfelder sind nicht weit entfernt. Die relative Nähe zu Israel macht es für die Amerikaner wichtig.

Libyen ist das 14.-größte Land der Welt und ist fünfmal so groß wie Deutschland, hat aber nur ein 1/15 der Bevölkerung von Deutschland. Diese größtenteils sehr junge Bevölkerung – 43 Prozent der Bevölkerung sind unter 25, nur vier Prozent sind über 65 – ist konzentriert in den Großräumen Tripolis, Bengasi sowie Darna, Tobruk im Osten des Landes.

Es gibt Minderheiten: die Berber (rund 600.000), die Dubu und die Tuareg, die zu den Ureinwohnern der Sahara zählen (beide jeweils zwischen 80.000 und 100.000 Personen). Libyen ist heute ein Staat. Die meiste Zeit seiner Geschichte hatte es weder eine zentrale Verwaltung noch gehörte es zu einem einzelnen Staat.

In Libyen gibt es Sunniten der verschiedensten Auslegungen. Der radikale Islam ist in Libyen erst in den 70er- und 80er-Jahren aufgetaucht. Sehr viele gehören zum Sufi-Islam, einer mystischen Form des Islam, die von den Salafisten scharf abgelehnt wird. Ende der 60er-Jahre, Anfang der 70er gab es in Libyen auch Moslembrüder, die vor Nasser aus Ägypten geflüchtet sind und von König Idris dort erst toleriert und danach von Gaddafi aufs Schärfste verfolgt worden sind.

2011 kam der Aufstand, dann die NATO. 2014 brach der Bürgerkrieg aus. Bis heute hat sich das Land nicht aus dem Chaos befreien können.