DGB-Chef Reiner Hoffmann im Interview„Die Angst vor Rot-Grün-Rot kann ich nicht nachvollziehen“

DGB-Chef Reiner Hoffmann im Interview / „Die Angst vor Rot-Grün-Rot kann ich nicht nachvollziehen“
„Vielleicht wird es ja doch noch Frau Baerbock!“: Reiner Hoffmann ist Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) Foto: dpa/Christopher Neundorf

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Der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Reiner Hoffmann, über die Bundestagswahl und den Vorsprung des SPD-Kandidaten Olaf Scholz, das Verhalten der Lokführergewerkschaft im Bahnstreik und warum er Minijobs abschaffen will.

Tageblatt: Herr Hoffmann, die Lokführergewerkschaft GDL legt mit ihrem fünftägigen Streik das ganze Land lahm. Warum machen die das?

Reiner Hoffmann: Bei Löhnen und Arbeitsbedingungen liegen GDL und Bahn gar nicht so weit auseinander. Im Kern geht es GDL-Chef Claus Weselsky also darum, seine Gewerkschaft – die zum Deutschen Beamtenbund (dbb) gehört – zu erhalten und ihren Einflussbereich zu vergrößern, um auf diese Weise mehr Mitglieder zu gewinnen. Bisher ist die GDL nur in 16 der insgesamt über 300 Bahn-Betriebe in der Lage, Tarifverträge auszuhandeln, für alle anderen ist die größere DGB-Verkehrsgewerkschaft EVG zuständig. Bei Herrn Weselsky und der GDL geht es ums pure Überleben.

Ist daran nicht das Tarifeinheitsgesetz schuld, das vorschreibt, dass die Bahn nur mit der Gewerkschaft Verträge schließen darf, die in einem Betrieb die meisten Mitglieder hat?

Die Bahn hat die Lokführergewerkschaft GDL in den Betrieben, in denen sie tariffähig ist, durchaus anerkannt. Was wir kritisch sehen, ist, dass hier eine Berufsgruppe wie die Lokführer ihre partikularen Interessen gegen das Gesamtinteresse aller anderen Bahn-Beschäftigten durchsetzt. Die Beschäftigtengruppen in einem Unternehmen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Obwohl die Differenzen zwischen der Gewerkschaft und der Bahn nicht sehr groß sind, weigert sich Herr Weselsky an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das halte ich für falsch.

Das Tarifeinheitsgesetz muss also nicht angetastet werden?

Nein. Es liegt an den Gewerkschaften, gemeinsam einen Tarifvertrag mit der Bahn abzuschließen. Vorbild ist die Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder: Hier hat sich Verdi zusammen mit anderen DGB-Gewerkschaften und dem Beamtenbund zu einer Tarifgemeinschaft zusammengetan. Gemeinsam handeln sie einen einheitlichen Tarifvertrag mit den Ländern aus.

Das neue Angebot der Bahn unterscheidet sich kaum noch von den Forderungen der GDL. Inwiefern diskreditiert die GDL mit der Fortsetzung ihres Streiks das Ansehen der Gewerkschaften insgesamt? Leidet dadurch der Rückhalt anderer Gewerkschaften bei künftigen Streiks?

Der aktuelle Streik schadet zunächst vor allem dem Ansehen der GDL. Den Rückhalt für die DGB-Gewerkschaften sehe ich nicht gefährdet. Sie setzen sich für alle Beschäftigtengruppen ein. Das findet große Anerkennung und Zustimmung bei den Menschen.

In drei Wochen wird gewählt. Eine Jamaika-Regierung unter Unionsführung oder eine Ampelkoalition unter SPD-Führung – was hätten Sie lieber?

Anders als früher sehen wir Gewerkschaften dieses Mal in den Wahlprogrammen Übereinstimmungen und Schnittmengen mit allen demokratischen Parteien, selbst mit der FDP. Das ist schon erstaunlich. Keine Partei stellt Arbeitnehmerrechte infrage, keine will – zumindest in ihren Wahlprogrammen – Arbeitnehmerrechte schleifen, alle wollen deutlich mehr in Infrastruktur, Bildung und Klimaschutz investieren. Absolut kritisch sehen wir natürlich die Steuerentlastungspläne der FDP und die Forderung von Teilen der Union, das Rentenalter zu erhöhen.

Viele Unternehmen fürchten einen Linksruck mit Rot-Grün-Rot. Auch der DGB müsste ein Interesse daran haben, den Wirtschaftsstandort nicht mit noch mehr Sozialausgaben zu belasten. Wie stehen Sie zu Rot-Grün-Rot?

Wenn Unternehmen vor Rot-Grün-Rot Angst haben, kann ich das nicht nachvollziehen. Das ist in einer Demokratie nun mal so, dass grundsätzlich alle demokratischen Parteien eine Koalition schmieden können, inklusive der Linkspartei. Die Demokratie stärke ich doch, indem ich die Menschen nicht mit Unkenrufen verunsichere, sondern ihnen glaubhaft Zukunftswege aufzeige, wie der Klimawandel, die Dekarbonisierung der Wirtschaft, der demografische Wandel und die Digitalisierung gleichzeitig bewältigt werden können.

Die SPD scheint der Union davonzueilen. Trauen Sie Olaf Scholz die Transformation in eine klimaneutrale Wirtschaft zu, wenn er am Kohleausstieg 2038 festhält?

Der Umbau in eine klimaneutrale Wirtschaft hängt vor allem vom raschen Ausbau erneuerbarer Energien mit bezahlbaren Strompreisen und den richtigen Rahmenbedingungen ab. Das hat auch die „Kohlekommission“ deutlich gemacht. Wenn die Voraussetzungen stimmen, ergeben sich auch Chancen für einen früheren Kohleausstieg.

Sollte eine neue Regierung es wagen, die Axt an den Acht-Stunden-Tag zu legen, macht sie sich die Gewerkschaften zum Gegner. Überlange Arbeitszeiten führen zu gesundheitlichen Belastungen und mehr Fehlzeiten, das sagen alle wissenschaftlichen Studien.

Union und FDP wollen statt des Acht-Stunden-Tages nur noch eine Wochenarbeitszeit von maximal 48 Stunden vorschreiben. Gehen Sie mit?

Das ist mit uns nicht machbar. Sollte eine neue Regierung es wagen, die Axt an den Acht-Stunden-Tag zu legen, macht sie sich die Gewerkschaften zum Gegner. Überlange Arbeitszeiten führen zu gesundheitlichen Belastungen und mehr Fehlzeiten, das sagen alle wissenschaftlichen Studien. Unsere Tarifverträge sind bei der Arbeitszeit schon extrem flexibel, sie ermöglichen auch passgenaue Lösungen für die Arbeitgeber und geben den Beschäftigten zugleich mehr Zeitsouveränität.

Hintergrund ist ja der Siegeszug des Home-Office nach der Corona-Krise, das zur Entgrenzung der Arbeitszeiten führt. Welche gesetzlichen Regelungen fordern Sie zur Regulierung der Heimarbeit?

Der Acht-Stunden-Tag muss selbstverständlich auch für Beschäftigte im Home-Office gelten. Auch alle anderen Arbeitsbedingungen zu Hause müssen gesetzlich geregelt werden. Wir sind grundsätzlich für einen Rechtsanspruch auf Home-Office: Jeder Arbeitnehmer soll ein Recht darauf haben, von zu Hause aus arbeiten zu können, wenn es die Art der Tätigkeit zulässt. Was wir aber nicht wollen, ist, dass Beschäftigte umgekehrt keinen Arbeitsplatz mehr im Betrieb vorfinden, weil der Arbeitgeber die Flächen einfach einspart. Wir wollen keine Reise nach Jerusalem im Betrieb. Und auch für Beschäftigte, die kein Home-Office machen können, muss es Angebote geben, die zu mehr Arbeitszeitsouveränität führen. Alles das gehört nach der Wahl in ein Gesetzespaket zur Regelung des mobilen Arbeitens.

Union und FDP wollen die Minijob-Grenze auf 550 oder 600 Euro anheben. Wie bewerten Sie das?

Minijobs halte ich ohnehin für einen Skandal. Sie müssen dringend reformiert werden, denn sie verhindern reguläre Beschäftigung und führen zu einer unzureichenden sozialen Absicherung, vor allem von Frauen. Wenn ich die Minijob-Grenze anhebe, wäre das ein Anreiz für Arbeitgeber, Vollzeitjobs in mehrere Minijobs aufzuspalten, um sich die Sozialbeiträge zu sparen. Im Ergebnis hätten wir mehr Minijobs statt weniger. Das will ich nicht.

Warum befürworten Sie eigentlich einen gesetzlichen Mindestlohn von zwölf Euro? Das ist doch ein Zeichen Ihrer Machtlosigkeit, weil sie nicht selbst höhere Löhne durchsetzen können!

Nein. Der Mindestlohn ist ein Zeichen der Tarifflucht der Unternehmen, die in großer Zahl Tarifverträge unterlaufen wollen. Der Einstieg 2015 in den Mindestlohn war mit 8,50 Euro einfach zu niedrig. Wir brauchen einen Mindestlohn, der auch in der Rente vor Armut schützt und deshalb mindestens zwölf Euro pro Stunde entspricht. Die Mindestlohnkommission aus Gewerkschaften und Arbeitgebern konnte sich bisher nicht auf einen armutsfesten Mindestlohn einigen. Deshalb fordern wir, dass die nächste Regierung den Mindestlohn in einem einmaligen gesetzlichen Akt auf zwölf Euro anhebt. Danach soll wieder die Kommission die Hoheit über den Mindestlohn haben.

SPD, Grüne und Linke wollen Hartz IV endlich überwinden und das Arbeitslosengeld II mit anderen Sozialleistungen zusammenfassen, Union und FDP wollen das nicht. Wer hat recht?

Auch wir halten das Hartz-IV-System für unsozial und nicht mehr zeitgemäß. Wir fordern seit Jahren eine Kommission, die die Hartz-IV-Sätze neu berechnet und deutlich anhebt. Das neue Bürgergeld für Langzeitarbeitslose muss so bemessen sein, dass man davon auskömmlich leben kann.

Wer soll das bezahlen?

Erstens können die Sozialkassen gestärkt werden, wenn versicherungsfremde Leistungen wie die Mütterrente aus Steuermitteln und nicht mehr aus Beitragsmitteln bezahlt werden. Zweitens steigen Beitrags- und Steuereinnahmen, wenn die Arbeitnehmerentgelte insgesamt wachsen – etwa durch höhere Tarifbindung und eine effektive Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Auch wenn es uns gelingt, das noch brachliegende Erwerbspotenzial zu heben, steigern wir das Wachstum und die Beitrags- und Steuereinnahmen. Viele Frauen, die Teilzeit arbeiten, wollen mehr Stunden arbeiten. Drittens fordert der DGB ein gerechteres Steuersystem, das die Einnahmebasis des Staates insgesamt stärkt und untere und mittlere Einkommen entlastet. Durch die Reform der Schuldenbremse und mehr Kredite können wir in Zukunft deutlich mehr dringend notwendige öffentliche Investitionen finanzieren.

Wenn wir alles zusammenfassen, dann wäre Ihnen ein Kanzler Scholz aber doch lieber als ein Kanzler Laschet?

Warten Sie es ab, vielleicht wird es ja doch noch Frau Baerbock! Nein, im Ernst, der DGB gibt keine Wahlempfehlung ab. Als Einheitsgewerkschaft haben wir stabile Gesprächsgrundlagen mit allen demokratischen Parteien.