BrüsselDie Angst der EU vor einer neuen Flüchtlingswelle

Brüssel / Die Angst der EU vor einer neuen Flüchtlingswelle
Demonstranten machen vor dem EU-Hauptquartier in Brüssel auf die Situation in Afghanistan aufmerksam Foto: dpa/Francisco Seco

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Nach dem Sieg der Taliban ringt die EU um eine neue Afghanistan-Politik. Dabei zeigen sich wieder altbekannte Reflexe.

Nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan wächst in der Europäischen Union die Sorge über eine mögliche Flüchtlingswelle. Der Präsident des Europaparlaments, David Sassoli, warnte am Mittwoch vor einem „massiven Zustrom an Migranten“. Die EU-Kommission müsse für eine gerechte Verteilung afghanischer Flüchtlinge auf die 27 Mitgliedsländer sorgen, forderte der Italiener.

Ähnlich äußerte sich Luxemburgs Innenminister Jean Asselborn bei einem Krisentreffen mit seinen Amtskollegen in Brüssel. „Wir brauchen Quoten für Flüchtlinge aus Afghanistan, die auf legalem Weg nach Europa kommen können“, sagte Asselborn. Den Zugang für afghanische Flüchtlinge zu blockieren, wie dies Österreich fordert, sei nichts anderes als Populismus.

Österreichs Innenminister Karl Nehammer hatte zuvor erklärt, dass sein Land keine Afghanen aufnehmen wolle. Zudem müssten Abschiebungen auch nach dem Machtwechsel in Kabul möglich sein. Er werde sich auf EU-Ebene darum bemühen, dass „Abschiebezentren“ in Nachbarländern Afghanistans eingerichtet würden, um aus Europa abgeschobene Afghanen unterzubringen.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Allerdings setzt der Spanier zunächst auf eine Beruhigung der Lage in Kabul – und auf Gespräche mit den neuen islamistischen Machthabern. „Die Taliban haben den Krieg gewonnen, also werden wir mit ihnen reden müssen“, sagte Borrell am Dienstagabend nach einer Videokonferenz der 27 Außenminister.

Plötzlich gilt nicht mehr, dass man sich mit Islamisten und Terroristen nicht an einen Tisch setzt. Borrell will sogar selbst dann noch humanitäre Hilfe zahlen, wenn die USA endgültig abgezogen sind. Dahinter steckt die Sorge, dass ein Kollaps in Afghanistan ähnlich wie die Krise in Syrien 2015 zu einer neuen Flüchtlingswelle führen könnte.

Borrell will keine Tabus

Zwar heißt es in Brüssel noch nicht: „2015 darf sich nicht wiederholen.“ Diesen Spruch aus dem deutschen Wahlkampf machen sich Borrell und andere EU-Diplomaten nicht zu eigen. Doch das Ziel, eine neue Migrationskrise zu verhindern, stand beim Treffen der Außenminister außer Frage. Damit die Afghanen nicht massenhaft nach Europa flüchten, will Borrell ihnen nun helfen.

Außerdem sollen die Nachbarländer Afghanistans unterstützt werden, damit dort Auffanglager und Arbeitsmöglichkeiten entstehen. „Pakistan, Iran und die Türkei werden entscheidend für uns“, erklärte Borrell nach der Krisensitzung. Sogar mit Russland und China will die EU enger zusammenarbeiten, um einen „Exodus“ Richtung Europa zu verhindern.

Wir können die Menschen aus Afghanistan doch nicht auf den Mond schießen

Jean Asselborn, Luxemburgs Außenminister kritisiert die Haltung insbesondere Österreichs, keine Afghanen aufnehmen zu wollen

Der Fall Afghanistans sei „die größte geopolitische Erschütterung seit der Annexion der Krim durch Russland“, erklärte Borrell. Deshalb dürfe es nun keine Tabus geben. Die EU müsse sich in der Region neu aufstellen und Konsequenzen aus dem Debakel ziehen. Welche Konsequenzen das sein könnten und wer die Zeche zahlen soll, verriet der Spanier jedoch nicht.

Zunächst gehe es darum, EU-Bürger und afghanische Hilfskräfte und Schutzbedürftige aus Kabul zu evakuieren, heißt es in Brüssel. Danach müsse man alles daransetzen, Afghanistan und die Nachbarländer zu stabilisieren, um eine neue Migrationswelle zu verhindern. Die Aufarbeitung der Krise könne erst danach beginnen, betonen Diplomaten.

Eine erste Gelegenheit bietet sich schon in zwei Wochen – beim informellen Treffen der EU-Außenminister am 2. und 3. September 2021 in Brdo pri Kranju (Slowenien). Doch auch dann dürfte die Angst vor einer neuen Flüchtlingswelle ganz oben auf der Agenda stehen.