SpanienDas „Wunder“ von Madrid: Wie die Stadt mit Tricks die Statistiken schönt

Spanien / Das „Wunder“ von Madrid: Wie die Stadt mit Tricks die Statistiken schönt
Gutes Geschäft: Madrids Restaurants sind voll, dabei war man noch vor Kurzem Europas Corona-Hotspot Foto: AFP/Gabriel Bouys

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In anderen europäischen Hauptstädten werden die Corona-Beschränkungen verschärft. Die Gastronomie wird dichtgemacht. In der spanischen Hauptstadt Madrid, die bis vor Kurzem als einer der schlimmsten europäischen Hotspots galt, werden die Maßnahmen derweil wieder gelockert. Warum?

Die Biergärten und Restaurants in Madrids Innenstadt sind voll. So voll, dass es in der Altstadt schwierig ist, einen freien Tisch zu erwischen. Die meisten Gäste sitzen üblicherweise ohne Maske am Tisch. „Die Party geht auch während der Pandemie weiter“, titelt Spaniens einflussreichste Zeitung El País.

Madrids konservativer Bürgermeister, José Luis Martínez-Almeida, forderte die 3,3 Millionen Hauptstadtbewohner sogar dieser Tage ausdrücklich auf, „draußen einen trinken zu gehen“. Ungehört verhallt der eindringliche Appell des spanischen Gesundheitsministers, des Sozialisten Salvador Illa, doch lieber möglichst zu Hause zu bleiben, um das Coronarisiko zu verringern.

Im Spätsommer hatte die spanische Metropole den unrühmlichen Titel als „Europas Corona-Hauptstadt“ erworben. Nirgendwo auf dem Kontinent waren damals höhere Infektionszahlen registriert worden. Mit der Folge, dass der konservativen Ministerpräsidentin der Hauptstadtregion, Isabel Díaz Ayuso, vorgeworfen wurde, die Metropole nicht auf die zweite Coronawelle vorbereitet zu haben und der Epidemie weitgehend tatenlos zuzusehen.

Politisches Pokern

„Wir können nicht die Wirtschaft abwürgen“, erwiderte Ayuso ihren Kritikern. Eisern wehrte sie sich gegen einschneidende Corona-Beschränkungen für Bevölkerung und Gewerbetreibende. Und das entgegen aller Forderungen der spanischen Regierung und der Epidemiologen, die für ein entschiedeneres Vorgehen eintraten, um bis Weihnachten die neue Infektionswelle zu besiegen.

Doch Ayuso setzte sich mit ihrem Sonderweg durch: Während auch in den meisten anderen spanischen Regionen auf dem Festland die Freiheiten wegen steigender Fallzahlen immer weiter eingeschränkt werden, lässt Madrids eigenwillige Regionalpräsidentin die Zügel lang: Gasthäuser und Bierschenken dürfen bis Mitternacht aufbleiben. Auch Fitnessstudios, Kinos und Theater sind geöffnet.

Und das Erstaunliche ist: Trotzdem gehen die offiziell gemeldeten Ansteckungszahlen in Madrid seit Ende September zurück. So sehr, dass Spaniens konservative Presse schon das „Wunder von Madrid“ bejubelt. Und die auffallend starke Verringerung der Fallzahlen als Beispiel dafür anführt, dass man Corona auch ohne harte Beschränkungen in den Griff bekommen kann. „Unsere Maßnahmen funktionieren“, verkündet Ayuso.

Experten haben Zweifel

Doch namhafte spanische Epidemiologen melden Zweifel an dieser Erfolgsmeldung an: Sie verweisen darauf, dass die Fallzahlen in Madrid von dem Tag an zurückgingen, als Ayuso eine Strategieänderung anordnete: Denn nachdem Madrids Gesundheitssystem Ende September vor dem Kollaps gestanden hatte, wurden die bis dahin benutzten aufwendigen PCR-Coronatests zunehmend durch weniger zuverlässige Antigen-Schnelltests ersetzt. Zudem werden seitdem Kontaktpersonen von Infizierten nicht mehr getestet.

Wenn man weniger Tests macht und wenn man Antigen-Tests statt PCR-Tests macht, entdeckt man weniger Fälle

Miguel Ángel Royo, Sprecher des spanischen Epidemiologen-Verbandes

Der Zusammenhang zwischen Strategieänderung und dem Rückgang der registrierten Fallzahlen sei ziemlich eindeutig, sagt der Mediziner Miguel Ángel Royo, Sprecher des spanischen Epidemiologen-Verbandes. „Wenn man weniger Tests macht und wenn man Antigen-Tests statt PCR-Tests macht, entdeckt man weniger Fälle.“ Ist also das „Wunder von Madrid“ nur statistische Trickserei?

Einige nackte Daten, die sich nicht so einfach beschönigen lassen, sprechen in der Tat dafür, dass sich die Situation nicht derart verbessert hat, wie es die Verantwortlichen glauben machen möchten. So sind zum Beispiel die meisten Intensivstationen der Madrider Krankenhäuser wie schon im September bis auf den letzten Platz gefüllt und der Betrieb kann nur mit improvisierten Erweiterungen der Behandlungsplätze aufrechterhalten werden.

Auch in der Todesopferstatistik spiegelt sich kein „Wunder“: Die Zahl der bestätigten Covid-19-Toten ist seit September nicht gesunken, sondern leicht gestiegen. Allein in den letzten vier Wochen starben in Madrid 1.074 Menschen. Die 14-Tage-Inzidenz liegt derzeit bei weit über 300 Fällen pro 100.000 Einwohner. Die Rate positiver Tests befindet sich bei über acht Prozent. Damit gehört Madrid nach der Definition des EU-Zentrums zur Epidemiebekämpfung (ECDC) immer noch zu den europäischen Hochrisikozonen.

titi
18. November 2020 - 15.33

Sich in die eigene Tasche lügen, löst nicht das Problem. Potemkinsche Dörfer!