Das Vorzimmer von Auschwitz

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25.000 Juden, davon 200 aus Luxemburg, und 350 Sinti und Roma wurden zwischen 1942 und 1944 aus der Kaserne Dossin in der Nähe von Mechelen nach Auschwitz deportiert. Nur knapp 5 Prozent, 1.395 Personen, sind zurückgekehrt. Die Historikerin Laurence Schram hat das Leben dieser Menschen und die Organisation der Kaserne aufgeschlüsselt.

„Die Kaserne Dossin war kein Vernichtungslager. Sie war ein Vorzimmer von Auschwitz. Die Lebensbedingungen für die 2.000 Gefangenen, die hier miteinander eingesperrt waren, waren zwar katastrophal, aber es sind nur verhältnismäßig wenige in Mechelen gestorben. Die Endlösung war anderswo. Das war so gewollt.“

Auf Einladung des „Luxembourg Center for Contemporary and Digital History“ (C2DH) der Uni Luxemburg, des „Comité Auschwitz“ und „Memoshoah“ hat die belgische Historikerin Laurence Schram über das Sammellager Dossin gesprochen, dessen Archiv und Forschungszentrum sie betreut. Dossin war nach dem französischen Drancy das zweitgrößte Sammellager, von wo aus Juden sowie Sinti und Roma aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden in die Todeslager von Auschwitz-Birkenau geschickt wurden. 28 Transportzüge sind von Dossin aus gestartet.

Detektivarbeit

Laurence Schram ist eine begnadete Erzählerin. Ihre Doktorarbeit, für die sie 2016 gleich zwei Preise erhielt und aus der ein 350 Seiten starkes Buch entstand, liefert Stoff für eine Konferenz, in deren Verlauf sie die Zuschauer eine Stunde lang durch den Alltag der Kaserne führt, die für 25.628 Männer und Frauen zwischen 39 Tagen bis 93 Jahren das Vorzimmer von Auschwitz war.

Spuren haben diese Unglücklichen nur wenige hinterlassen. In den Dokumenten, die nach Kriegsende in Auschwitz-Birkenau übrigblieben, sind nur 3.000 Deportierte aus Mechelen aufgezählt. Es war demnach eine geduldige Detektivarbeit notwendig, um alle anderen Unterlagen aufzuspüren. Fündig wurde Laurence Schram in Dossin selbst, wo ein Gefangener bei der Räumung der Kaserne die Listen der 28 Züge unter einem Duschbecken versteckt hatte. Weitere Informationen fand sie in den Polizeidokumenten, in den Zeichnungen, die heimlich in der „Malerstube“ angefertigt wurden und in den späteren Erzählungen der Überlebenden, häufig junge Frauen, die zum sogenannten „Stammpersonal“ gehörten und somit zusammen mit den SS-Leuten das Lager verwalteten.

Sie saßen in der sogenannten „Hexenstube“ und hatten es etwas besser als die gewöhnlichen Gefangenen, die in viel zu kleinen Räumen zusammengepfercht waren. Ihr persönlicher Besitz wurde ihnen gleich bei ihrer Ankunft abgenommen. Lebensmittel wurden in den kärglichen täglichen Rationen verarbeitet, Wertsachen verkauft beziehungsweise gegen Lebensmittel eingetauscht, denn das Lager durfte nichts kosten.
Der Standort Mechelen war nicht zufällig ausgesucht worden. Er liegt genau zwischen Brüssel und Antwerpen, wo die zwei größten jüdischen Gemeinschaften Belgiens lebten. Die ehemalige Dossin-Kaserne ist in sich abgeschlossen und direkt ans Eisenbahnnetz angeschlossen.

Zwischen der relativ kleinen deutschen SS-Besatzung (etwa ein Dutzend Soldaten und Polizisten), ihren flämischen Helfern und dem jüdischen Stammpersonal sowie den Werksleuten, die Handlangerarbeiten ausführten, war alles streng durchorganisiert und vollständig auf die Hierarchie beziehungsweise die Unterdrückung und die extreme Erniedrigung der jüdischen Gefangenen und der Zigeuner aufgebaut.

Es kam zwar zu einzelnen Rebellionen, einigen Hundert Gefangenen gelang auch die Flucht aus den Waggons, es wurden mitunter auch Transportlisten gefälscht, aber einen echten, organisierten Widerstand gab es dort nie.

Ort der Erinnerung

Die Kaserne Dossin beleuchtet nicht nur die belgische Geschichte, sie versteht sich als Museum über die Gewalt der Massen. Ausgehend vom Holocaust sucht sie nach zeitlosen Mechanismen des Gruppendrucks und der kollektiven Gewalt, die unter bestimmten Umständen zu Massenmord und Genozid führen können. Diese Fragestellung trifft den Kern der modernen Menschenrechte, deren Schwerpunkt bei Begriffen wie Freiheit und Nicht-Diskriminierung liegt.

Vom Verhalten der Täter und Mitläufer ausgehend, wird der Besucher für kollektive Gewaltmechanismen und die Möglichkeit zum Neinsagen sensibilisiert. Das Museum zeigt, wie die Spirale zunehmender Massengewalt zu einem Genozid führt. Spektakulär ist die Fotowand über fünf Etagen, von der die 25.836 Deportierten im Rahmen des Projekts „Gib ihnen ein Gesicht“ auf die Besucher schauen. Die ihnen somit wieder verliehene Identität steht in Kontrast zu der aufgewiegelten Menge, die sie verfolgte und ihnen nach dem Leben trachtete.

Im Keller des Museums werden alle Namen in der Reihenfolge ihrer Transportnummern von Schülern aus 17 Schulen vorgelesen. Das durchbricht nicht nur die Anonymisierung der Opfer, es widersetzt sich auch dem ultimativen Ziel der Nazis, der totalen Vernichtung, die keine einzige Spur mehr hinterlassen sollte.

Historisch

Die Dossin-Kaserne wurde 1756 im Auftrag der Kaiserin Maria Theresia von Österreich errichtet. Bis 1914 waren dort militärische Depots. 1942 wurde sie zum Sammellager für Juden, Sinti und Roma. Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis 1975 war eine Schule der belgischen Armee dort untergebracht.

Die Absicht, das Gebäude abzureißen, wurde heftig bekämpft, daraufhin übernahm die Stadt Mechelen das Gebäude, um dort Wohnungen einzurichten. Viele Bürger meinten jedoch, die Geschichte des Sammellagers dürfe nicht in Vergessenheit geraten und bestanden auf der Einrichtung eines Museums, das dann 1995 eingeweiht wurde.
Weil der Besucherandrang groß war, wurde es in einem neuen Gebäude untergebracht, während aus der Kaserne eine reine Gedenkstätte sowie das Dokumentationszentrum für den Holocaust und die Menschenrechte wurde.