„Echter nationaler Notstand“Britische Corona-Mutation zwingt jetzt auch Irlands Gesundheitssystem in die Knie

„Echter nationaler Notstand“ / Britische Corona-Mutation zwingt jetzt auch Irlands Gesundheitssystem in die Knie
Passanten mit Maske in Dublin: Auch Irland kämpft verzweifelt gegen die Corona-Mutation B.1.1.7 Foto: dpa/Brian Lawless

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Die Zahlen könnten alarmierender kaum sein. Irland gilt seit vergangener Woche als weltweiter Spitzenreiter bei Neuinfektionen mit dem Coronavirus. Das ohnehin ausgedünnte Gesundheitssystem droht zu kollabieren.

Im Schatten der größeren Nachbarinsel kämpft auch Irland verzweifelt gegen die aggressive Corona-Mutation B.1.1.7. Am Dienstag lag die Zahl der Covid-Patienten auf den Intensivstationen des Landes erstmals über dem Höchststand vom Frühjahr. Im Durchschnitt der vergangenen Woche lag die grüne Insel, bezogen auf die Bevölkerungsgröße, weltweit an der Spitze der täglichen Neuinfektionen. Das ohnehin ausgedünnte Gesundheitssystem droht zu kollabieren.

Die Zahlen könnten alarmierender kaum sein. Mit derzeit täglich rund 6.000 Neuinfektionen verzeichnete die Republik in der vergangenen Woche 1.394 neue Fälle pro eine Million Einwohner, deutlich mehr als das benachbarte Großbritannien (810) oder die USA (653). Bei beinahe der Hälfte der Patienten wurde die neue Mutation von SARS-CoV-2 festgestellt, berichtete Premierminister Micheál Martin. In stark frequentierten Parks und engen Straßen sollten die Menschen künftig auch im Freien Masken tragen, sagte der Regierungschef in Medieninterviews. In Geschäften und im öffentlichen Nahverkehr ist der Mund-Nasen-Schutz längst zwingend vorgeschrieben.

In 13 Spitälern des kleinen Landes stand zu Wochenbeginn kein einziges Intensivbett mehr zur Verfügung, drei Kliniken waren vollständig belegt. Vor der Uniklinik in Letterkenny (Bezirk Donegal) mussten am Wochenende sieben Ambulanzfahrzeuge als Notbetten dienen. In den vergangenen zwei Wochen hat sich die Zahl der Covid-Patienten mehr als vervierfacht. „Die Situation wird wahrscheinlich noch schlimmer werden“, teilte Vize-Regierungschef Leo Varadkar, ein Mediziner, dem TV-Sender RTE mit.

Atemberaubende Entwicklung der Pandemie

Epidemiologen erwarten den Höchststand an schwer Erkrankten erst gegen Ende des Monats; womöglich werden dann doppelt so viele Covid-Patienten Betreuung auf den Intensivstationen des Landes benötigen. Man habe es mit „einem echten nationalen Notstand“ zu tun, betonte Professor Alan Irvine vom Verband der irischen Krankenhausärzte.

Auf der Insel ganz im Nordwesten Europas hat die Pandemie eine atemberaubende Entwicklung durchgemacht. Noch vor einem Monat lag der Neuinfektionswert pro Million Einwohner lediglich bei 52. Seit Jahresbeginn schießt der Wert in die Höhe. Allein in den vergangenen sieben Tagen zählte das Gesundheitsamt 46.000 Covid-Positive und damit mehr als in den acht Monaten zwischen März und Oktober zusammen. Allerdings wurde damals deutlich weniger getestet. Einziger Lichtblick: Einstweilen liegt die Zahl der Covid-Toten pro Million Einwohner niedriger (474) als in vielen anderen EU-Staaten wie Deutschland (506) oder Österreich (755) oder gar in Großbritannien (1.204). Hochgerechnet auf eine Million Einwohner steht Luxemburg in dieser Statistik bei 868 Corona-Toten.

Als Ursachen für die rasante Verschlechterung verweisen Experten vor allem auf B.1.1.7. Die Virusmutation trat vermutlich im September erstmals in der englischen Grafschaft Kent auf und hat sich seither zunächst im britischen Südosten, bald aber auf der ganzen britischen Insel rasant ausgebreitet. Wegen der vielfältigen Kontakte zur ehemaligen Kolonialmacht – für die Reise zwischen den Inseln benötigen Briten und Iren keinen Pass – war der Sprung auf die grüne Insel nur eine Frage der Zeit.

Regierung wegen Lockerungen in der Kritik

Die Regierung steht in der Kritik, weil sie nach einem sechswöchigen Lockdown Anfang Dezember viele Einschränkungen gelockert hatte. Unter anderem durften Restaurants und Pubs wieder öffnen. Auch war den Iren zu Weihnachten die Begegnung mit Nachbarn und Verwandten erlaubt.

Die erste Pandemiewelle hatte die Regierung, damals noch unter Varadkars Führung, mit einem harten Lockdown bekämpft. Unter anderem durften sich die Iren nicht mehr als fünf Kilometer von ihrem Wohnort entfernen. Die Maßnahmen waren so erfolgreich, dass im Frühsommer viele der Einschränkungen gelockert werden konnten. Spätestens seit Mitte August aber lag die mittlerweile zustandegekommene

Jamaika-Koalition unter dem nationalliberalen Taoiseach (gälisch für Häuptling) Martin mehr oder weniger öffentlich im Clinch mit der Gesundheitsbehörde HSE. Der oberste Amtsarzt Tony Holohan musste sich immer wieder Kritik dafür gefallen lassen, dass er die Regierung öffentlich zu schärferem Vorgehen drängte; dabei tat sich besonders der Mediziner Varadkar hervor, der inzwischen als Vize-Regierungschef und Wirtschaftsminister agiert.

„Verstörende“ Erkenntnisse

In Irlands ehemaligen Heimen für unverheiratete Mütter sind Tausende Kinder gestorben. Eine irische Untersuchungskommission stieß laut ihrem am Dienstag veröffentlichten offiziellen Untersuchungsbericht auf eindeutige Hinweise auf den Tod von 9.000 Kindern in den Einrichtungen, die über Jahrzehnte hinweg und noch bis 1998 von religiösen Orden und dem irischen Staat betrieben wurden. Regierungschef Micheal Martin sprach von zutiefst „verstörenden“ Erkenntnissen. Er will sich am heutigen Mittwoch im Parlament im Namen des Staates entschuldigen.
Die von der Regierung eingesetzte Kommission untersuchte die Gründe für die hohe Kindersterblichkeit in insgesamt 18 kirchlich betriebenen Heimen für unverheiratete Mütter zwischen den Jahren 1922 und 1998. Im streng katholischen Irland wurden Frauen, die vor der Heirat schwanger wurden, oft in solchen Heimen unter harschen Bedingungen untergebracht. Die Kinder wurden häufig von den Müttern getrennt und zur Adoption freigegeben, um alle Bande zu ihrer eigentlichen Familie zu zerstören. Doch etwa 15 Prozent der Kinder, die in dem untersuchten Zeitraum von 76 Jahren in den Heimen geboren wurden, starben auch dort, wie die Kommission berichtete. (AFP)