WeißrusslandAutokrat Lukaschenko und Oppositionskandidatin Tichanowskaja sehen sich als Wahlsieger

Weißrussland / Autokrat Lukaschenko und Oppositionskandidatin Tichanowskaja sehen sich als Wahlsieger
Gestern Abend kam es erneut zu Konfrontationen zwischen der Polizei und Demonstranten in Minsk Foto: Sergei Grits/AP/dpa

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Tausende von Weißrussen folgten auch gestern Abend dem Protestaufruf der Opposition gegen die Wahlfälschungen. Die Festnahme von bis zu 3.000 Demonstranten sowie brutale Prügelorgien der Sicherheitskräfte in der Wahlnacht hielten sie davon nicht ab.

Erneut wurde das Internet gesperrt, doch mobiltelefonbasierte Telegrammkanäle zeigten Kurzvideos von hupenden Autokolonnen in der Hauptstadt Minsk und Pinsk im Südwesten nahe der Grenze zur Ukraine sowie erneut Demonstrationszüge von den Minsker Außenquartieren ins Stadtzentrum. Auch aus der bis dahin Lukaschenko besonders treu ergebenen Provinzhauptstadt Mohylew wurden mindestens 2.000 Demonstranten gemeldet. Polizei und Armee hielt sich bis zu Redaktionsschluss zurück.

Eine friedliche Idylle von Dachsen bei der Futtersuche und weiteren Wildtieren in weißrussischen Wäldern zeigte Alexander Lukaschenkos Staatsfernsehen „Belarus 24“ in der Wahlnacht zum Montag. Doch der Schein trog. Denn auf den Straßen der Hauptstadt Minsk prügelten derweil OMON-Sondereinheiten auf bis zu 100.000 Demonstranten ein. Blendgranaten erhellten den Himmel, Tränengas und Wasserwerfer sollten die Massen aufgebrachter Bürger auseinandertreiben.

Die bereits traditionellen Nachwahlproteste lockten so viele Weißrussen wie noch nie in den 26 Regierungsjahren des Autokraten Lukaschenko auf die Straßen. Provoziert hatte den Aufstand die Verkündigung amtlicher Exitpolls kurz nach Urnenschluss am Sonntagabend. Sie sagten dem Diktator mit 81,5 Prozent erneut einen haushohen Wahlsieg über die Opposition voraus. Deren neue Hoffnung, die 37-jährige Swetlana Tichanowskaja, konnte demnach mit nur knapp 7 Prozent der Stimmen rechnen.

„Schande!“, „Fälschung!“, riefen die Demonstranten und forderten Lukaschenko auf, das Land zu verlassen. „Verschwinde!“, skandierten sie, von Polizeiketten am Gang ins Minsker Regierungsviertel gehindert. „Hau ab!“, riefen aufgebrachte Menschenmengen im ganzen Land. Tichanowskaja hatte die Weißrussen im Juli während ihrer Wahlkampagne mobilisiert. Tausende hatten die Meetings der jungen Hausfrau und Englischübersetzerin besucht, ihrem Ruf nach einem normalen demokratischen Land gelauscht. Vor allem die bisher lethargische, verarmte und eher Lukaschenko-treue Provinz hatte die Ehefrau eines im Juni eingesperrten, bekannten Videobloggers aufgerüttelt. Mitgeholfen hatte dabei Lukaschenko selbst, der sich über die Corona-Krise lustig machte, das Virus, Mediziner und gar Infizierte verspottete.

Nicht überraschend fanden die amtlichen Exitpolls gestern Morgen ihre amtliche Bestätigung. Laut Lukaschenkos Wahlleiterin Lydia Jermoschina haben 80,2 Prozent den amtierenden Staatspräsidenten für eine sechste Amtszeit bestätigt. Tichanowskaja wurde mit 9,9 Prozent ein etwas höheres Ergebnis zugebilligt, drei weitere Oppositionskandidaten sollen zusammen auf rund vier Prozent gekommen sein und sechs Prozent der Wähler die Option „Gegen alle“ angekreuzt haben. Die Wahlbeteiligung lag angeblich bei 84,2 Prozent. „Die offiziellen Endergebnisse stehen am 14. August, aber ich rechne nicht mit wesentlichen Änderungen“, sagte Jermoschina.

Parallelzählung

Tichanowskaja erklärte daraufhin auf einer Pressekonferenz in ihrem Minsker Hauptquartier, sie erkenne das offizielle vorläufige Abstimmungsergebnis nicht an. „Ich betrachte mich selbst als Gewinnerin der Wahl“, sagte sie. Die Präsidentschaftskandidatin stützt sich dabei auf Informationen aus „sehr vielen“ Wahlkommissionen, aber auch der Parallelzählung von rund 1,2 Millionen Stimmen durch die unabhängige Wählervereinigung „Golos“ (Stimme). Diese hatte die Weißrussen dazu aufgerufen, ihre ausgefüllten Wahlzettel vor der Stimmabgabe zu fotografieren und auf ihr Portal zu stellen. Laut „Golos“ waren rund 80 Prozent dieser Stimmen für Tichanowskaja. Ein ähnliches Bild zeigen offizielle Ergebnisse aus 21 von rund 40 Konsularbezirken im Ausland. Bisher waren keine der von Lukaschenko durchgeführten Wahlen frei und offen. Allgemein nimmt man an, dass die Resultate jeweils bereits vorher feststehen. Seit 2010 will Lukaschenko konstant knapp über 80 Prozent der Stimmen erhalten haben.

Sie habe nicht die Absicht, das Land zu verlassen und verstecke sich nur aus Sicherheitsgründen, sagte Tichanowskaja gestern Mittag in Minsk. Kurz vor dem Wahlsonntag waren zehn ihrer zentralen Wahlhelfer verhaftet worden, darunter ihre Stabschefin. Ihre Anhänger forderte sie auf, die friedlichen Proteste fortzusetzen.

Die Proteste gegen die notorischen Wahlfälschungen hatten in der Wahlnacht erstmals nicht nur in Minsk stattgefunden, sondern vor allem auch in der Provinz. Laut Angaben des Innenministeriums wurden dort zweimal mehr Demonstranten festgenommen als in der Hauptstadt. Insgesamt spricht das Innenministerium von 3.000 Festnahmen und Unruhen in nicht weniger als 33 Ortschaften. Dabei mussten sich die Sicherheitskräfte laut Augenzeugen und Bürgervideos in den Provinzstädten Baranowitschi (180.000 Einwohner) und Pinsk (140.000 Einw.) offenbar vor den Demonstranten zurückziehen. In zwei kleineren Provinzstädten ließen Lukaschenkos Spezialtruppen die Demonstranten offenbar gewähren, in zwei weiteren Städten wurden die Lokalverwaltungen gestürmt.

Aufruf zum Generalstreik

Dies ist völlig neu für das insgesamt als sehr friedlich geltende Land zwischen Polen und Russland und beflügelt Hoffnungen der Opposition auf einen „Weißrussischen Frühling“. Tichanowskaja selbst ist nicht an Straßenprotesten beteiligt, wie sie betonte. „Dies würde nur zu einer Eskalation des Konflikts führen“, sagte sie gestern. Gleichzeitig forderte sie Lukaschenko und die Behörden auf, einen Dialog aufzunehmen, um Gewalt zu vermeiden. Laut ihrer engsten Mitstreiterin, der vorübergehend am Samstag selbst festgenommenen Maria Kolesnikowa, sind ihre Anhänger jedoch zu einem langfristigen Protest bereit. „Das ist erst der Anfang“, sagt Kolesnikowa.

Gestern Nachmittag wurde ein Streik im staatlichen Stahlkombinat von Schlobin im Südosten Weißrusslands gemeldet. Demnach sollen mehrere Abteilungen ihre Arbeit aus Protest gegen die Wahlfälschungen niedergelegt haben. Angeblich sollen Dutzende von Arbeitern festgenommen worden sein. In sozialen Netzwerken kursiert seit Sonntagabend ein Aufruf zum Generalstreik.

„Diese Schafe setzen sich hin und verstehen nicht, was sie von ihnen wollen“, beschimpfte Lukaschenko gestern Tichanowskajas Hauptquartier. Der Autokrat machte nun Tschechien und Polen sowie einige Ukrainer für die Demonstration verantwortlich. Russland, China und Kasachstan haben Lukaschenko bereits zum angeblichen Wahlsieg gratuliert.