Deutschland / Aufruhr nach Idee zur Entschärfung der Schuldenbremse: „Dann gibt es kein Halten mehr“
In Deutschland provoziert Kanzleramtschef Braun mit der Idee zur Entschärfung der Schuldenbremse – und versetzt die Union in Aufruhr.
Wird die Schuldenbremse wegen der Corona-Pandemie zu Grabe getragen? Als erster prominenter Regierungsvertreter wagte sich am Dienstag Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) aus der Deckung. Die Schuldenbremse sei „in den kommenden Jahren auch bei ansonsten strenger Ausgabendisziplin nicht einzuhalten“, schrieb er in einem Zeitungsbeitrag und forderte eine Grundgesetzänderung. Das sorgte für heftige Unruhe in den eigenen Reihen.
Bislang hatten vor allem Grüne und Linke kaum ein gutes Haar an der Schuldenbremse gelassen. Nun argumentierte auch Braun für eine Verfassungsänderung, um die Regelung wenigstens für die „kommenden Jahre“ außer Kraft zu setzen. Stattdessen solle es einen „verlässlichen degressiven Korridor“ bei der Neuverschuldung geben. Die Verfassungsänderung soll laut Braun auch ein „klares Datum für die Rückkehr zur Einhaltung der Schuldenregel“ beinhalten. Den Termin ließ der Merkel-Vertraute aber offen.
In der Union galt bislang das Ziel, die Schuldenbremse bereits im kommenden Jahr wieder einzuhalten. Laut Grundgesetz darf der Bund nur in geringem Maße Schulden aufnehmen, höchstens im Umfang von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das gilt seit mehr als zehn Jahren. Und dank guter Konjunktur hatte der Bund auch lange Zeit kein Problem damit. Doch dann kam Corona, die Einnahmen schwanden und die Ausgaben stiegen exorbitant an. Deshalb wurden die strengen Auflagen per Parlamentsbeschluss für die Bundeshalte 2020 und 2021 ausgesetzt.
Kann eine Vollbremsung überhaupt gelingen?
Auch das lässt das Grundgesetz bei „außergewöhnlichen Notsituationen“ zu. Bedingung ist in solchen Fällen aber ein Tilgungsplan, um die hohen Verbindlichkeiten „binnen eines angemessenen Zeitraumes“ wieder abzutragen. Für die im Haushaltsjahr 2020 entstandenen Schulden wurde deshalb festgelegt, dass ab 2023 jeweils rund 1,9 Milliarden Euro in 20 Jahresschritten abzustottern sind. Für das Haushaltsjahr 2021 sind nach vorläufigen Berechnungen ab 2026 jeweils sechs Milliarden Euro in 17 Jahresschritten zu tilgen. Die gesamte Prozedur dauert also bis zum Jahr 2043, wobei ab 2026 jährlich insgesamt rund acht Milliarden Euro für den Schuldenabbau gebunden wären.
An diesem Tilgungsplan will auch Braun nicht rütteln. Ihm geht es um die nächsten Haushaltsaufstellungen für die Zeit ab 2022. Das Problem: Würde die Schuldenbremse schon im kommenden Jahr wieder greifen, könnte der Bund nur noch etwa zehn Milliarden Euro an neuen Krediten aufnehmen – nach fast 180 Milliarden Euro geplanter Neuverschuldung in diesem Jahr.
Eine solche Vollbremsung dürfte wohl nur gelingen, wenn die Corona-Pandemie rasch abflaut und die Konjunktur wahre Purzelbäume schlägt. Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Deshalb Brauns Vorstoß für einen „degressiven Korridor“, sprich, für einen weitaus weniger abschüssigen Pfad bei der Schuldenaufnahme. Zugleich forderte der Kanzleramtsminister den Verzicht auf jedwede Steuererhöhung und eine Begrenzung der Sozialabgaben auf 40 Prozent des Bruttolohns.
Seine Idee war allerdings nicht mit den Unionsspitzen abgesprochen. Erst am Dienstagmorgen, als der Plan längst über die Ticker der Nachrichtenagenturen lief, versuchte Braun den Landesgruppenchef der CSU, Alexander Dobrindt, telefonisch zu erreichen. Der saß zu diesem Zeitpunkt mit Journalisten zusammen und hatte kurz vorher die Frage, ob er und CSU-Parteichef Markus Söder in Brauns Pläne eingeweiht gewesen seien, mit einem klaren „Nein!“ beantwortet. Söder sprach später von einem „falschen Signal“.
Dobrindt nannte Brauns Alleingang „einen Debattenbeitrag“, was wenig positiv klang. Zwar räumte der CSU-Mann ein, dass man bei der Haushaltsaufstellung 2022 „möglicherweise“ noch mehr Kredite benötige. Die von Braun ins Spiel gebrachte Grundgesetzänderung lehne er jedoch ab. Denn wenn Deutschland „quasi das Schleusenöffnungssignal“ gebe, so Dobrindt weiter, hätte das erhebliche Auswirkungen auf die europäischen Nachbarländer.
Markenzeichen der Konservativen
Dem Vernehmen nach war auch CDU-Chef Armin Laschet ahnungslos. Der NRW-Ministerpräsident ließ sich am Dienstagnachmittag in die Fraktionssitzung schalten, um sogleich Braun abzuwatschen: „Sollten Regierungsmitglieder es für erforderlich halten, die Verfassung ändern zu wollen, sollten sie dies in Zukunft mit Partei und Fraktion abstimmen. Das kann man nicht mal so eben machen“, schimpfte Laschet nach Informationen des Tageblatt. In der Fraktion herrschte regelrecht Aufruhr, insbesondere bei den Wirtschafts- und Finanzpolitikern. Die Schuldenbremse und irgendwann auch wieder die „schwarze Null“, also ein Etat komplett ohne neue Kredite, sind bisher das Markenzeichen von CDU und CSU. „Solide Staatsfinanzen sind für die Unionsfraktion nicht verhandelbar“, sagte Eckhardt Rehberg, Urgestein der CDU-Finanzpolitik. Und Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus betonte: „Die Fraktion steht da klar.“
„Wenn sich Politik nicht selbst klar an Regeln bindet, gibt es kein Halten mehr“, ätzte derweil Mittelstandschef Carsten Linnemann. Die Grundgesetzänderung wäre ein Dammbruch, sie müsse die rote Linie für die Union bleiben. Ob Braun seinen Vorstoß mit Kanzlerin Merkel abgesprochen hatte, blieb unklar. In der Regel macht der Kanzleramtsminister freilich kaum etwas ohne vorherige Beratung mit seiner Chefin.
Die Zeit für eine Grundsatzentscheidung drängt. Denn bereits im März muss Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) die Eckwerte für die Finanzplanung bis 2025 vorlegen. Dazu braucht es auch Klarheit über das weitere Schicksal der Schuldenbremse. Justizministerin Christine Lambrecht, ebenfalls SPD, zeigte sich auch skeptisch über die angepeilte Verfassungsänderung. „Für eine Grundgesetzänderung wären hohe Hürden zu nehmen“, sagte sie unserer Redaktion. „Sie setzt einen breiten parteiübergreifenden Konsens voraus, den ich aktuell nicht sehe.“
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