BergkarabachAserbaidschan hisst seine Flaggen auch in Latschin – aber viele Fragen bleiben offen

Bergkarabach / Aserbaidschan hisst seine Flaggen auch in Latschin – aber viele Fragen bleiben offen
Umsetzung des Friedensabkommens: aserbaidschanische Soldaten auf dem Weg nach Latschin Foto: AFP/Karen Minasyan

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Gestern hat Aserbaidschan die dritte und letzte Region übernommen, die Armenien gemäß dem Waffenstillstandsabkommen im Bergkarabach-Konflikt abtreten muss. Ruhe dürfte vorerst trotzdem keine einkehren.

Eine Frau treibt ihr Vieh vor sich her, ein Mann geht neben seinem Pferd auf der leicht verschneiten Straße an ihr vorbei. Ein weiteres Video zeigt einen jungen Kerl im Tarnfleck und mit Dreitagebart in seinem vollgepackten Auto, ein Zicklein kauert im Fußraum hinter dem Fahrersitz. An diesem letzten Novembertag kennen alle nur eine Richtung: weg aus ihrer Heimat, raus aus Latschin, der dritten und letzten Region in Bergkarabach, die Armenien gemäß dem Waffenstillstandsabkommen an Aserbaidschan abtreten musste.

Nur wenige Karabach-Armenier verweigern offenbar den Abzug und damit das Verlassen ihrer Heimat auch an diesem Stichtag. Der 48-jährige Lewon Geworgjan, Besitzer eines Lebensmittelgeschäfts, entschied sich zu bleiben. „Ich fürchte mich nur vor Gott. Ich bin seit 22 Jahren hier, ich habe mit nichts angefangen, ich habe alles aufgebaut“, sagte er gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. „Falls ich gehen muss, werde ich alles niederbrennen.“

Außer Wracks bleibt nichts zurück: Die Straße durch den Latschin-Distrikt verbindet Armenien mit Bergkarabach und wird künftig von russischen Friedenssoldaten bewacht
Außer Wracks bleibt nichts zurück: Die Straße durch den Latschin-Distrikt verbindet Armenien mit Bergkarabach und wird künftig von russischen Friedenssoldaten bewacht Foto: AFP/Karen Minasyan

Wenige Stunden später sind die nächsten Videos zu sehen – zufrieden in die eigenen Smartphone-Kameras feixende aserbaidschanische Soldaten, wie sie nach Latschin einrücken. Im Morgengrauen des 1. Dezember hissten sie dann die Landesflagge über einem Verwaltungsgebäude der Stadt Latschin. Die Bilder sagen: Mission erfüllt.

Eine Goldmine ist jetzt geteilt

Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew sprach gestern in einer Fernsehansprache vom Anbruch „einer neuen Realität“. „Wir haben den Feind aus unserem Land vertrieben. Wir haben unsere territoriale Integrität wiederhergestellt. Wir haben die Besatzung beendet“, zitierte ihn die AFP. Vor dem ersten Konflikt um Berg-Karabach in den 90er-Jahren hätten fast 50.000 Aserbaidschaner in der Region Latschin gelebt. Sie würden nun in „naher Zukunft“ zurückkehren.

Nach einer beispiellosen Offensive war es Aserbaidschan innerhalb von 45 Tagen gelungen, tief in die selbsternannte, aber von keinem Staat der Welt anerkannte Republik Bergkarabach vorzudringen (hier entlang zur Tageblatt-Reportage aus dem Kriegsgebiet). Die Schutzmacht Armenien musste in eine demütigende Kapitulation einwilligen. Das Abkommen, am 9. November zwischen den Präsidenten Aserbaidschans und Russlands sowie Armeniens Premierminister unterzeichnet, ist mit dem Abzug der Karabach-Armenier nahezu erfüllt. 2.000 russische Soldaten sollen den Frieden vor Ort garantieren.

Gestern einigten sich Russland und die Türkei zudem auf die Einrichtung eines Zentrums zur Sicherung der Waffenruhe in der Südkaukasus-Region. Wo dieses hinkommt, wurde nicht mitgeteilt. Damit bleibt auch die Frage offen, ob türkisches Militär in Karabach stationiert sein wird – eine Forderung Ankaras, die Moskau bislang zurückwies.

Es ist nicht die einzige Frage, die Bergkarabach derzeit umtreibt. Bei weitem nicht. Viele Detailfragen scheinen ungelöst.

Eine Goldmine, betrieben von einem russischen Konzern, ist plötzlich zweigeteilt. Der Eingang wird von Aserbaidschan kontrolliert, ein großer Teil der Stollen liegt unter Bergkarabach zugestandenem Gebiet. Aserbaidschan kontrolliert jetzt mit Kelbadschar jene Region, aus der Bergkarabach einen Großteil seiner Wasservorräte bezieht und deren Flüsse mit dem riesigen Sevan-See auch Armeniens größtes Reservoir alimentieren. Einige Dörfer gehören auf der Karte noch zu Bergkarabach, sind aber nahezu umgeben von aserbaidschanischem Gebiet. Die Karbach-Armenier fürchten unterdessen um ihre Kirchen, Kreuzsteine und Friedhöfe. Erste im Internet zirkulierende Videos eines aserbaidschanischen Soldaten, der breitbeinig auf einem Kirchturm steht, dem das Kreuz bereits fehlt, und laut „Allahu Akbar“ ruft, haben nicht zur Beruhigung beigetragen.

Sorgen macht man sich auf beiden Seiten vor allem um seine Kriegsgefangenen. Auch hier haben Internetvideos Grausames zutage gefördert. Von Demütigungen über Exekutionen bis zu Enthauptungen gibt es besonders auf den sozialen Netzwerken Telegram und TikTok vieles zu sehen, was nur schwer verdaulich ist. Die meisten Videos – von den Soldaten selbst gepostet – schienen bislang Kriegsverbrechen durch aserbaidschanische Soldaten zu belegen. Inzwischen zirkulieren auch Bilder von mindestens einem Mord an einem aserbaidschanischen Soldaten durch Streitkräfte Bergkarabachs oder Armeniens – auf den Bildern lässt sich das nicht genau erkennen.

In Latschin-Stadt hängt seit Dienstag die Flagge Aserbaidschans
In Latschin-Stadt hängt seit Dienstag die Flagge Aserbaidschans Foto: AFP/Karen Minasyan

Nicht nur diese Bilder, vieles ist schwammig geblieben in dem Krieg, dessen Verlauf von Falschinformationen von beiden Seiten möglichst unkenntlich gemacht werden sollte. Besonders auf Twitter widmen sich Experten mittels Geolokalisierungen von Fotos den Rekonstruktionen der Abläufe verschiedener Gefechte. In Armenien selber hält der Druck auf Premierminister Nikol Paschinyan, mit dem das Tageblatt das letzte Interview vor der Kapitulation führte, weiter an. Es vergeht kein Tag, an dem in Jerewan nicht gegen die eingegangenen Konzessionen protestiert und der Rücktritt Paschinyans gefordert wird. Das fing mit der Unterzeichnung des Abkommens an. Medienberichten zufolge wurden gestern dabei 35 Menschen festgenommen.

Grausame Videos und zahllose Minen

Auch der hohe Blutzoll wird Paschinyan zur Last gelegt. Offiziell kamen 2.300 armenische Soldaten in den 45 Tagen Krieg ums Leben. Die meisten Experten halten das für eine krasse Untertreibung und rechnen mit 5.000 Toten alleine auf armenischer Seite – bei einer Gesamtbevölkerung von drei Millionen eine extrem hohe Zahl. Aserbaidschan veröffentlicht keine Zahlen – wegen des Angriffskrieges gegen gut befestigte Stellungen gehen die Schätzungen hier von ähnlich vielen Opfern aus. 

Viel länger als mit dem politischen Schicksal Einzelner werden sich die Menschen in Bergkarabach und in den von Aserbaidschan eingenommenen Provinzen mit der Gefahr von Minen und nicht explodierten Raketen und Granaten auseinandersetzen müssen. Es könne bis zu 15 Jahre dauern, bis alle gefährlichen Gegenstände geborgen seien, sagte der Leiter des lokalen Minenräum-Zentrums, Samwel Mesropjan, am Samstag in der Hauptstadt Stepanakert gegenüber armenischen Medien. „Es wartet noch viel Arbeit.“ Allein in den vergangenen drei Tagen seien mehr als 500 Stück Streumunition zerstört worden. „Die haben wir auch in der Nähe von Wohngebieten gefunden“, sagte Mesropjan. Vermint sind auch alle anderen vom Krieg betroffenen Regionen. Mehrere Menschen kamen bereits ums Leben. Zuletzt sollen nach aserbaidschanischen Angaben vier Zivilisten in der vor kurzem noch umkämpften Region Fuzuli ums Leben gekommen sein, als ihr Auto über eine Mine fuhr.

Der Boden in Bergkarabach und drumherum ist voller Minen und nichtexplodierter Bomben, viele Menschen auf beiden Seiten weiter voller Hass auf die jeweils andere. Auch wenn das Leben in Stepanakert, der Hauptstadt Bergkarabachs, wieder an Fahrt aufnimmt, die Wunden dieses Krieges werden noch lange nicht verheilt sein.