PolenAnti-PiS-Demonstrationen gewinnen an Fahrt

Polen / Anti-PiS-Demonstrationen gewinnen an Fahrt
Demonstration der Frauen gestern in Warschau Foto: Janek Skarzynski/AFP

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In Polen droht die Auseinandersetzung um das umstrittene Abtreibungsverbot des PiS-hörigen Verfassungsgerichts immer mehr aus dem Ruder zu laufen.

Vor Kirchen und PiS-Parteibüros versammelten sich erste rechte Bürgerwehren. Auf der anderen Seite hatte ein Frauenstreikaufruf am gestrigen Mittwoch erstaunlich viel Erfolg. In ganz Polen gingen Tausende Frauen und auch Männer nicht zur Arbeit. Viele Kultureinrichtungen, Museen und Universitäten blieben aus Protest gegen die PiS-Regierung geschlossen. In der zweitgrößten Stadt Lodz streikte gar die Bürgermeisterin. Die oppositionelle Bürgermeisterin Hanna Zdanowska (liberale „Bürgerplattform“, PO) veröffentlichte auf Twitter ein Foto ihres verwaisten Büros.

Mit 20.000 Teilnehmerinnen kam es in Lodz bereits gestern Nachmittag zum größten Frauenmarsch gegen das praktisch vollständige Abtreibungsverbot und die Kaczynski-Regierung. In der Hauptstadt Warschau versammelten sich derweil Tausende von Demonstranten vor dem Hauptsitz des ultrakonservativen „Instituts für Rechtskultur – Ordo Iuris“, der neuen fundamentalistischen Kaderschmiede der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). In Krakau und Danzig versammelten sich Tausende Studenten zu Protesten in der Altstadt. Erneut wurden dabei auch katholische Kirchen mit Pro-Abtreibungs-Slogans beschmiert, eine Protestaktion, die viele Polen beunruhigt – und die Protestbewegung einige Sympathien kostet. Für den Abend waren in ganz Polen Straßenblockaden und weitere Demonstrationszüge geplant.

Die wütenden Protestaktionen polnischer Frauen wurden durch ein Verfassungsgerichtsurteil vom vergangenen Donnerstag provoziert. Das seit der Machtübernahme Kaczynskis im Herbst 2015 von der PiS mit 14 von 15 Verfassungsrichtern dominierte Organ erklärte die seit 1993 möglichen Abtreibungen bei „schwerer Schädigung des Fötus“ für illegal. Das Verfassungsgericht verbot damit rund 98 Prozent der bisher in Polen legal vorgenommenen Abtreibungen. Im Jahre 2019 wurden so 1.074 von insgesamt 1.100 Abtreibungen (bei einer Gesamtbevölkerung von 38 Mio.) begründet. Polen hatte bereits bisher nach Malta das restriktivste Abtreibungsrecht in Europa. Dieses muss nun weiter beschränkt werden, dazu verpflichtet das Verfassungsgericht das von der PiS dominierte Parlament.

Die Proteste gegen das drakonische Verfassungsgerichtsurteil mitten in der Corona-Krise wandten sich daraufhin nicht nur gegen PiS und Regierungsparteichef Jaroslaw Kaczynski persönlich, sondern auch die mächtige katholische Kirche, die PiS seit 2005 immer wieder unterstützt hat. Laut Innenministerium mussten seit Beginn der Proteste vor sechs Tagen insgesamt 386 katholische Kirchen von der Polizei beschützt werden. 22 heilige Messen sind demnach von Pro-Choice-Aktivistinnen massiv gestört worden, 79 Kirchenbauten wurden besprayt.

Mehrheit gegen Urteil des Verfassungsgericht

Nicht zuletzt wegen dieser beispiellosen Angriffe auf Kirchen macht sich bei PiS immer größere Nervosität breit. Vize-Premier und PiS-Chef Kaczynski wandte sich am Dienstagabend mit einer „Ansprache an die Nation“ an die Polen. Kaczynski forderte die PiS-Sympathisanten dabei unverhohlen dazu auf, Bürgerwehren zum Schutz der Kirchen zu bilden.

„Das Verfassungsgerichtsurteil wird zum Vorwand für eine Kultur- und Zivilisationsrevolte genommen, man versucht gar, die Regierung zu stürzen“, warnte Jaroslaw Sellin, Kaczynskis einflussreicher Vize-Kulturminister, gestern im Staatsfernsehen TVP1. „Kaczynski hat keinerlei Empathie mit den Frauen; PiS hat die Frauen verraten, die Partei behandelt sie nicht als Bürgerinnen mit einem Lebensrecht und eigener Würde“, sagt dagegen Wanda Nowicka von der Linkspartei. Wenn die Proteste wie erwartet am Wochenende weiter zunehmen, drohen Polen eine Art low-profile-bürgerkriegsähnliche Zustände, bestimmt aber ein nun auch auf der Straße ausgefochtener Kulturkampf.

Auch im nationalkonservativen Regierungslager sind dabei erste Risse zu erkennen: Die 25-jährige Präsidententochter Kinga Duda sprach sich gestern überraschend für das Abtreibungsgesetz von 1993 aus, das vom Verfassungsgericht für illegal erklärt wurde. „Ich habe den bisherigen Kompromiss immer für eine gute Lösung gehalten“, schreibt die junge Juristin und Beraterin des von PiS unterstützten Andrzej Duda in einer Stellungnahme. Laut Umfragen lehnen 72 Prozent der Polen das Verfassungsgerichtsurteil ab. 22 Prozent würden hingegen eine Fristenregelung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche vorziehen. Nur 11 Prozent wollen ein vollständiges Abtreibungsverbot.