Kabul / Afghanen in der Stadt lernen die Taliban kennen
Die afghanische Hauptstadt Kabul ist noch weit von Normalität entfernt. Langsam lernen die Menschen ihre neuen Herren kennen. Erste drücken ihre Unzufriedenheit aus.
Der Afghane Ehsan Amiri ist ein bisschen ein Trotzkopf. Vier Tage ist es nun her, dass sein Präsident Aschraf Ghani getürmt ist und die militant-islamistischen Taliban in seiner Stadt Kabul eingezogen sind. Sie patrouillieren in Autos auf seiner Straße und bewachen ein öffentliches Gebäude und ein paar Häuser in seinem Viertel. Er weiß, dass die Islamisten keine „Cowboys“ mögen. So werden in Afghanistan Jeans genannt. Und trotzdem zieht er sie an, als er am Mittwoch nach drei Tagen zu Hause erstmals wieder in sein Lieblingscafé in Schahr-e Nau im Zentrum der Stadt geht.
Die „Cafeteria“ ist eines der beliebtesten Cafés der Stadt, und üblicherweise gepackt voll. Im Erdgeschoss sitzen normalerweise vor allem junge Männer mit schicken Frisuren und engen Hosen und lachen, im zweiten Stock gibt es einen nicht weniger ruhigen Bereich für Familien. Doch heute, erzählt Ehsan in Sprachnachrichten, ist vieles anders. „Nur ganz wenige Besucher sind hier, und fast alle tragen Piran wa Tunban“, sagt er. Piran wa Tunban ist ein in Afghanistan traditionelles Kleid aus weiten Hosen mit langem Oberhemd.
Amiri sagt, noch werde man nicht an jeder Ecke daran erinnert, dass es nun neue Herren in Afghanistan gibt. Für die städtische Bevölkerung ist es mehr ein langsames Kennenlernen jener Männer, die bislang in urbanen Zentren aus dem Untergrund agierten. Für Teile der Bevölkerung Kabuls seien die Taliban genauso fremd wie die meisten Ausländer, heißt es in der jüngsten Analyse der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network.
„Wir haben ganz Afghanistan in elf Tagen erobert“, sagte der Taliban-Sprecher am Dienstag. Aber sie sind wohl auch selbst von ihrem raschen Erfolg überrascht. Davon, dass sie das Land regieren, kann noch nicht die Rede sein. Nur langsam und auch unter wenig Aufsehen kommen die Taliban-Führer ins Land oder zeigen sich öffentlich.
Während Amerikaner oder Deutsche am Dienstag ihre Staatsbürger und Ortskräfte vom Flughafen Kabul ausflogen, landete der Taliban-Vizechef Mullah Abdul Ghani Baradar in Kandahar im Süden des Landes. Wer bei den Islamisten nun welche Aufgabe bekommt und wie das Land geführt werden soll, ist noch offen. Aus Geheimdienstkreisen heißt es, es gebe interne Rangeleien um Posten.
Große Ungewissheit, leise Hoffnungen
So bekommen die Afghanen auch nur allmählich die Gesichter jener Männer der Bewegung zu sehen, von denen sie in den vergangenen Jahren immer nur über Internet-Erklärungen, Audiobotschaften oder über Twitter-Nachrichten gehört haben. Am Dienstag gab Sabiullah Mudschahid, der langjährige Sprecher der Islamisten, dessen Name jeder Afghane, der die Nachrichten verfolgt, kennt, seine erste öffentliche Pressekonferenz. Niemand weiß freilich so genau, ob es nicht mehrere Mudschahids gab in der Vergangenheit. Aber nun haben die Afghanen erstmals ein Gesicht.
Mit den Worten „Der ist ja wirklich gebildet“ kommentierte ein Bewohner Kabuls Mudschahids ersten öffentlichen Auftritt. Ein anderer war nicht weniger überrascht und sagte nach Mudschahids wiederholten Beteuerungen, dass kein Afghane und kein Ausländer etwas befürchten müsse, dass die Taliban ja vielleicht doch bessere Führer seien als die bisherige korrupte Regierung.
Auch aus den Provinzen und Provinzhauptstädten gibt es aktuell kaum Berichte darüber, dass sich die Islamisten schlecht verhielten. Doch es dürften Zweifel angebracht sein. Beobachter glauben nicht, dass die Taliban bei ihrer weichen Linie bleiben, wenn sie einmal voll aufgestellt sind und beginnen, ihr bisher nur vage definiertes „islamisches System“ umzusetzen.
Erste Anzeichen, dass sie ihre strikte Ideologie nicht über Bord geworfen haben, gibt es. Die bekannte Fernsehmoderatorin Shabnam Dauran etwa veröffentlichte am Mittwoch, sie sei nicht zur Arbeit gelassen worden – obwohl sie einen Hidschab trug und ihren Ausweis dabei hatte. „Das Regime hat sich geändert, geh nach Hause“, habe man ihr gesagt.
Amiri, der seine Sachen in der Cafeteria in Kabul zusammenpackt, sagt, er sehe durch die großen Glasfenster auf die Straße. Es sei immer noch weniger Verkehr als üblich, und es hätten bei weitem noch nicht alle Geschäfte wieder geöffnet. Und dann sagt er einen Satz über Kabul, der wohl für das ganze Land gelten könnte: „Es sieht nicht so aus, als ob sich die Stadt schon von dem Schock erholt hat, den sie am Sonntag erlebt hat.“ (dpa)
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