Quergelesen35 Jahre Atomkatastrophe Tschernobyl

Quergelesen / 35 Jahre Atomkatastrophe Tschernobyl
„Der lange Schatten von Tschernobyl“: In seinem Buch über die Nuklearkatastrophe vor 35 Jahren erzählt der „National Geographic“-Fotograf Gerd Ludwig mit beeindruckenden Bildern über die Menschen und die betroffene Region heute  Foto: Gerd Ludwig/Edition Lammerhuber

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René Oth über die albtraumhafte Wirklichkeit von verseuchten Landschaften und verstrahlten Lebewesen

Am 35. Jahrestag der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl hat das vielfach preisgekrönte Buch des National Geographic-Fotografen Gerd Ludwig „Der lange Schatten von Tschernobyl / The Long Shadow of Chernobyl / L’Ombre de Tchernobyl“ (1) mit einem Einführungstext von Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow und Zitaten der Literaturnobelpreisgewinnerin Swetlana Alexijewitsch leider noch nichts von seiner brisanten Aktualität eingebüßt.

 Foto: Gerd Ludwig/Edition Lammerhuber

Eine fürchterliche Lektion

Am Samstag, dem 26. April 1986 explodierte im Atomkraftwerk von Tschernobyl nahe Prypjat in der Ukraine der Reaktorblock Nummer 4. Michail Gorbatschow, der damals gerade 13 Monate als der letzte Staatspräsident der Sowjetunion im Amt war, vermerkt dazu in seinem Vorwort: „Tschernobyl hat mir wie kein anderes Ereignis die Augen geöffnet: Es zeigte mir die furchtbaren Folgen der Kernkraft, selbst wenn sie zu nichtmilitärischen Zwecken genutzt wird. Man konnte sich jetzt viel deutlicher vorstellen, was passieren könnte, wenn eine Atombombe gezündet würde. Nach der Meinung vieler Experten könnte eine SS-18-Rakete hunderte Tschernobyls enthalten.“

Der lange Schatten von Tschernobyl wirkte sich laut Michail Gorbatschow vermutlich auch verhängnisvoll auf die Geschichte seines Landes aus: „Der Atomunfall von Tschernobyl war vielleicht mehr noch als die von mir begonnene Perestroika die wirkliche Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion fünf Jahre später.“

 Foto: Gerd Ludwig/Edition Lammerhuber

Ein atomarer Super-GAU

Für den Autor und Fotografen Gerd Ludwig war es die größte fotografische Herausforderung, die er jemals erlebt hatte: „Der allmähliche Abbau bürokratischer Barrieren in der Ukraine ermöglichte es mir, weitaus tiefer in das Innere des zerstörten Reaktors vorzudringen als je ein anderer westlicher Fotograf. Nachdem ich meine übliche Schutzkleidung und einen drei bis vier Millimeter dicken Plastikoverall angelegt und mich mit einem Geigerzähler und Dosismeter ausgerüstet hatte, folgte ich einer Gruppe von sechs Arbeitern in die Höhle des Ungeheuers. Die Arbeiter, deren Aufgabe darin bestand, Löcher für riesige Stahlmasten in den Beton zu fräsen, um so das Dach zu stabilisieren, trugen zusätzlich Gasmasken und Sauerstoffflaschen. Sie hatten es eilig. Die Strahlung dort ist so hoch, dass unser Aufenthalt trotz unserer Schutzkleidung auf nur 15 Minuten pro Tag beschränkt war.“

Dass es Gerd Ludwig dabei mulmig zumute war, braucht einen nicht zu wundern: „Die Umgebung war dunkel und verursachte Angst und Beklemmung; wir eilten durch spärlich beleuchtete Tunnel, übersät mit Kabeln, zerfetzten Metallteilen und undefinierbarem Schrott. Ich bemühte mich, nicht zu stolpern. Während ich fotografierte, musste ich dem radioaktiv verseuchten Staub und dem Funkenregen ausweichen, die beim Fräsen entstanden. Der Adrenalinschub war unglaublich, denn ich wusste, dass ich weniger als 15 Minuten Zeit hatte, um eindringliche Bilder in einem Bereich zu machen, den nur wenige jemals gesehen haben und zu dem ich wohl nie wieder Zugang haben würde.“

 Foto: Gerd Ludwig/Edition Lammerhuber

Ein endzeitliches Todesareal

Der Autor hat Tschernobyl in den letzten 20 Jahren neun Mal besucht. Seine packenden und berührenden Aufnahmen machen sein Werk zu einem bedeutsamen Buch der Erinnerung an jene Männer, Frauen und Kinder, die dieses entsetzliche Unglück durchleiden mussten und müssen.

„Mich treibt die Verpflichtung, im Namen von stummen Opfern zu handeln, um ihnen mit meinen Bildern eine Stimme zu geben. Bei meinem Aufenthalt in Tschernobyl habe ich viele verzweifelte Menschen getroffen, die bereit waren, ihr Leiden öffentlich zu machen – einzig beseelt von der Hoffnung, Tragödien wie diese zukünftig zu verhindern“, so Gerd Ludwig über sein fotografisches Vermächtnis.

Im Gedenken an Tschernobyl und angesichts der verzweifelten Lage im Kernkraftwerk Fukushima nach dem Erdbeben und Tsunami in Japan hält uns der Fotograf mit seinen beklemmenden Bildern vor Augen, dass Unfälle in einem derartigen Ausmaß zum Wesen der Kernkraft gehören und sich trotz größter Vorsichtsmaßnahmen überall und jederzeit wiederholen können.

 Foto: Gerd Ludwig/Edition Lammerhuber

Unermessliches Leid

„Die Tschernobyl-Katastrophe im Frühling 1986 sprengte jedes menschliche Vorstellungsvermögen. Wie hätte man das unermessliche Leid in Worte fassen sollen? Wie die Angst vor einem ungekannten Tod, der, unsichtbar und abstrakt, blühende Wiesen und Wälder verseuchte und Tausende von Opfern forderte?“, fragt sich Swetlana Alexijewitsch in ihrem rezenten Werk „Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft“ (2).

Darin unterhält sie sich mit überlebenden Opfern der Nuklearkatastrophe über deren zukünftiges Dasein in einer Welt von Toten. Sie spricht mit kranken Soldaten, Witwen, Müttern, Kindern, Wissenschaftlern und Bauern, die allesamt das Pech hatten, zur Zeit der Nuklearschmelze in der Todeszone oder nicht weit davon zu verweilen, und denen sie eindringliche psychologische Porträts widmet, die unter die Haut gehen und die sich als „ungeheuerliches Requiem der Klage und Anklage“ im Gedächtnis des Lesers festsetzen.

Lesetipps

(1) Gerd Ludwig: „Der lange Schatten von Tschernobyl / The Long Shadow of Chernobyl / L’Ombre de Tchernobyl“ (Edition Lammerhuber, Baden bei Wien, 252 Seiten mit 127 Fotos, Hardcover im Schuber, auf Deutsch, Englisch und Französisch, € 75,00, ISBN 978-3-9011753-66-4);

(2) Swetlana Alexijewitsch: „Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft“ (Suhrkamp-Verlag, Berlin, 372 Seiten, Klappenbroschur, € 18,00, ISBN 978-3-518-46956-9)