Die McCanns, die anfangs selbst unter Verdacht gerieten, wollten sich damit nicht abfinden. „Wir werden alles Erdenkliche tun, um sie zu finden“, kündigten die Eltern damals an. Und sie leierten die größte private und öffentliche Suchaktion an, welche die Welt je gesehen hatte: Nach einem Hilfsaufruf gingen Millionenspenden ein. Privatdetektive wurden angeheuert. Suchkampagnen mit Fotos der Vermissten gestartet. Der Papst, Prinz Charles und die britische Regierung schalteten sich ein – doch von Madeleine keine Spur.
Nach einem Jahr Untersuchung stellte die portugiesische Polizei die Ermittlungen ein. Die Einwohner des Feriendorfes Praia da Luz entfernten die Suchplakate, die in Schaufenstern und an Hausfassaden hingen. Sie wollten endlich wieder zur Ruhe kommen, nachdem der Name ihres Ortes monatelang mit der Schreckensnachricht in Verbindung gebracht worden war.
Ermittlungen von Scotland Yard
Aber die legendäre britische Polizeibehörde Scotland Yard wollte nicht aufgeben und suchte weiter. Die britischen Spürnasen durchwühlten die portugiesischen Ermittlungsakten, in der Hoffnung, doch noch eine brauchbare Spur zu finden. Sie gingen rund 9.000 Hinweisen nach. Vernahmen mehr als 1.000 Personen. Überprüften mithilfe von Interpol polizeibekannte Sexualstraftäter und Einbrecher, die sich im fraglichen Zeitraum in Portugal aufgehalten hatten.
Dabei erhärtete sich die wichtigste Hypothese der britischen Fahnder: Demzufolge gilt es als wahrscheinlich, dass der oder die Täter in jenes Ferienappartement eindrangen, in dem Madeleine und ihre beiden jüngeren Geschwister schliefen, während die Eltern in einem nahen Restaurant beim Abendessen saßen. Die Eindringlinge verschleppten dann vermutlich Maddie.
In den Monaten vor dem Verschwinden Madeleines soll es einen auffälligen Anstieg von Einbrüchen in Praia da Luz gegeben haben. Eine Sexualstraftat wurde seitens Scotland Yards von Beginn an für möglich gehalten.
Auch die Eltern wurden verdächtigt
Die Verwicklung von Madeleines Eltern, die von dem früheren portugiesischen Chefermittler Gonçalo Amaral verdächtigt worden waren, wird hingegen von Scotland Yard ausgeschlossen. Amaral hatte Kate und Gerry McCann beschuldigt, hinter dem Verschwinden Maddies zu stecken. Der Kripochef schrieb sogar ein Buch über seine Mutmaßungen. Demzufolge sei das Mädchen möglicherweise bei einem Unfall im Appartement gestorben. Die Eltern hätten dies vielleicht vertuscht und den Leichnam heimlich beseitigt.
Zuletzt war es ziemlich ruhig geworden um den Fall Madeleine. Das anfangs große Ermittlungsteam von Scotland Yard war auf vier Beamte geschrumpft. Kate und Gerry McCann hatten ihre öffentliche Suchkampagne weitgehend eingestellt. Auch wenn sie immer noch jedes Jahr symbolisch am 12. Mai Madeleines Geburtstag feierten – sie wäre inzwischen 17 Jahre alt.
Umso überraschender kam nun die Wende: Am Abend des 3. Juni 2020, 13 Jahre und einen Monat nach Madeleines Verschwinden, verkünden Scotland Yard und das deutsche Bundeskriminalamt (BKA), dass man eine heiße Spur verfolge, die nach Braunschweig führt. Dort ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen einen 43-jährigen Deutschen, der im Fall Madeleines unter Mordverdacht steht.
BKA befürchtet das Schlimmste
Die Braunschweiger Behörde befürchtet das Schlimmste: „Wir gehen davon aus, dass das Mädchen tot ist.“ Scotland Yard gibt sich derzeit noch zurückhaltender und spricht offiziell weiterhin von einem Vermisstenfall und nicht von einem Mord.
Die Indizien, die bisher über eine mögliche Tatbeteiligung des Deutschen bekannt wurden, fügen sich zu einem durchaus schlüssigen Bild: Demnach hielt sich der Mann von 1995 bis 2007 immer wieder an der Algarve auf. Zum Tatzeitpunkt, am 3. Mai 2007, befand er sich, so ergab die Auswertung seiner Handydaten, in der Umgebung von Praia da Luz.
Er soll in der Algarve-Region mit einem weiß-gelben VW-Kleinbus mit deutschem Kennzeichen unterwegs gewesen sein. Und zwar nicht nur, um dort Urlaub zu machen. „Er ist dort schon mit Straftaten wie zum Beispiel Rauschgifthandel und Einbruchsdiebstählen in Hotels und Ferienwohnungen aufgefallen“, sagt BKA-Sprecher Christian Hoppe. Das BKA bat am Mittwochabend in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ um weitere Hinweise zur Aufklärung des Falles.
Verdächtiger bereits wegen Kindesmissbrauchs vorbestraft
Hoppe bestätigt zudem, dass der Verdächtige wegen Kindesmissbrauchs vorbestraft ist. Derzeit sitze der Mann wegen einer Sexualstraftat in Deutschland in Haft. Die Braunschweiger Zeitung berichtet ergänzend, dass der 43-Jährige wegen der Vergewaltigung einer US-Amerikanerin, die er 2005 in Maddies Urlaubsort Praia da Luz begangen haben soll, derzeit eine siebenjährige Haftstrafe verbüße.
Die ersten Hinweise auf den 43-jährigen Braunschweiger erreichten das BKA bereits im Jahr 2013. Damals berichtete „Aktenzeichen XY … ungelöst“ das erste Mal über den Fall Madeleine. Kate und Gerry McCann waren damals in der Sendung zu Gast. Doch die Informationen sind damals noch nicht stichhaltig gewesen. 2017 habe es dann weitere Hinweise auf den Mann gegeben, berichten die Ermittler. Seitdem haben das BKA und Scotland Yard weitere Indizien gegen den Verdächtigen zusammengetragen.
Nur die Beweise fehlen bisher noch. Deswegen sind die deutschen und die britischen Fahnder nun an die Öffentlichkeit gegangen und bitten die Bevölkerung um Mithilfe. Und sie locken mit einer Belohnung: Das BKA stellte 10.000 Euro und Scotland Yard 20.000 Pfund für Hinweise in Aussicht.
Madeleines Eltern wissen unterdessen: Die Chance, dass ihre Tochter noch lebt, ist sehr gering. Auch wenn sich Kate und Gerry McCann weiter daran klammern, dass ein Wunder eintreten könnte: „Wir werden niemals die Hoffnung aufgeben, Madeleine lebend zu finden“, erklärten sie nun. Die Ungewissheit sei derweil grauenhaft. Deswegen gehe es ihnen nun vor allem um Eines: „Was auch immer herauskommen sollte, wir wollen es wissen, weil wir Frieden finden müssen.“
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