SchuleWenn Schüler die Systeme sprengen

Schule / Wenn Schüler die Systeme sprengen
Psychologin Dr. Denise Reding-Jones erklärt im Tageblatt-Gespräch, wieso manche Schüler das System sprengen und wie Lehrer dagegen vorgehen sollten Foto: privat

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Viele Lehrer kennen diese Situation: Manche Schüler reizen die Grenzen derart aus, dass ein normaler Unterricht quasi nicht mehr möglich ist. Diese Schüler sprengen sozusagen das System. Die meisten Lehrer sind unvorbereitet darauf, da sie in ihrer Ausbildung nicht gelernt haben, wie sie damit umgehen sollen. Dr. Denise Reding-Jones ist Psychologin mit Spezialgebiet Traumatologie und bietet Fortbildungen zu dem Thema am IFEN („Institut de formation de l’éducation nationale“) an. Im Tageblatt-Gespräch berichtet sie, wie es zu dem Teufelskreis kommt und was man dagegen tun kann.

Manche Schüler lassen sich nicht in den normalen Klassenraum integrieren. „Das sind sehr oft Kinder, die sich innerlich nicht genug strukturiert bekommen, um in diesem Schulsystem zu funktionieren“, sagt Dr. Denise Reding-Jones im Tageblatt-Gespräch. Die Psychologin, die sich auf Traumatologie spezialisiert hat und auch Weiterbildungen am IFEN anbietet, war in der vergangenen Woche Referentin beim ersten internationalen Kolloquium des CDSE („Centre pour le développement socio-émotionnel“) zum Thema „SchülerInnen sprengen Systeme“. Interessierte Lehrkräfte und andere Professionelle konnten sich die Konferenz als Fortbildung beim IFEN anrechnen lassen. Das Thema stieß laut Reding auf reges Interesse.

So, wie unser Schulsystem mit seinen Strukturen aufgebaut ist, haben manche Schüler Schwierigkeiten, sich anzupassen, sagt sie. Dies treffe sowohl auf das Benehmen als auch auf das Lernen zu. „Deshalb sprengen sie das System.“ Vielen Lehrern gelingt es nicht, diese Schüler in den Klassenraum zu integrieren. Eine solche Situation ist etwa, wenn ein Lehrer versucht, 15 Schüler zu unterrichten und zwei dabei sind, die in bestimmten Momenten zur Tür hinauslaufen, mit Stühlen um sich werfen oder andere verprügeln.

Was sind das für Kinder, die sich so verhalten? Für Reding sind das keine Kinder, die einfach nur verhaltenskreativ sind oder eine Verhaltensproblematik aufweisen, sondern solche, die in ihrem Gehirn durch zuvor Erlebtes Netzwerke aufgebaut haben, die zu jedem Moment und durch alles Mögliche „getriggert“ werden können. Durch diesen Auslöseimpuls schaltet ihr Gehirn von einer Lebenssituation in eine Überlebenssituation um. Laut Reding muss es sich beim Erlebten nicht unbedingt um einen Krieg oder um körperliche Gewalt handeln. Oft liegt es an einer großen Vernachlässigung des Kindes oder an Bindungsstörungen. Laut der Psychologin wissen diese Kinder oder Jugendliche nicht, wie man eine gesunde Bindung eingehen kann. Sie wissen nicht, wie sie sich sicher fühlen können.

Das sind also Kinder, die ihre Umwelt anders wahrnehmen als das, was sie wirklich ist. Wenn sie sich dann in Gefahr fühlen, überreagieren sie. Und dann sprengen sie das System.

Dr. Denise Reding-Jones, Psychologin

Deshalb wähnen sich diese Kinder und Jugendliche sehr oft in Gefahr, ohne in Gefahr zu sein, erklärt Reding. Oder sie glauben, dass jemand über sie urteilt, ohne dass dies der Fall ist. Reding nennt ein Beispiel. Wenn sie mit Kindern arbeitet, dann sagen diese zu ihr: „Ja, aber die Lehrerin war wütend auf mich.“ Dann fragt Reding: „Wie weißt du das?“ – „Sie hat wütend geguckt.“ Reding sagt, dass die Lehrerin in diesem Fall vielleicht gar nicht wütend geguckt hat, sondern bedenklich oder konzentriert. „Das sind also Kinder, die ihre Umwelt anders wahrnehmen als das, was sie wirklich ist. Wenn sie sich dann in Gefahr fühlen, überreagieren sie. Und dann sprengen sie das System“, so Reding.

Ein Perspektivenwechsel für die Lehrer

Jeder Mensch hat ein emotionales Gehirn. Nicht nur die Schüler. Auch die Lehrer. „Das Problem liegt darin, dass wir das Verhalten der Schüler sehen und sie danach beurteilen“, so Reding. Dieses Verhalten kann auch bedrohlich oder beängstigend für den Lehrer sein. Und der Schüler geht vielleicht davon aus, dass der Lehrer sowieso denkt, dass er dies und jenes nicht kann oder sowieso nicht gut genug sei. „Wenn ein Kind sich nicht gut binden kann, ist es schwer, Vertrauen aufzubauen, auch mit den Mitschülern oder dem Lehrer.“

Was aber können Lehrer tun, um diese Schüler dennoch in ihrer Klasse zu integrieren? „Wir haben kein Rezept dagegen“, sagt Reding. Sie sagt immer am Anfang von Konferenzen, dass sie keinen Koffer mit Lösungen dabeihat, den sie einfach aufmachen kann. Einen solchen Koffer gebe es auch nicht. „Wir versuchen, den Lehrkräften einen Perspektivenwechsel zu geben.“ Dadurch könne man erreichen, dass die Lehrer den Schüler besser verstehen. „Wir haben also Werkzeuge gegeben.“ Ein wichtiges Element nennt Reding die Spiegelneuronen, die wir in unserem Gehirn haben. Mit diesen Neuronen überprüft sowohl der Erwachsene als auch das Kind ständig seine Umwelt.

Reding nennt ein Beispiel. In einer Klasse kann sich die Situation folgendermaßen abspielen: Ein Kind zieht sich vielleicht etwas zusammen und strahlt eine gewisse Anspannung aus. Die Lehrerin sieht das Kind und zieht sich auch etwas zusammen. Unbewusst. Dann merkt das Kind, dass die Lehrerin gestresst ist. Das Kind wird noch ängstlicher. Das Ganze schaukelt sich hoch. Reding sieht die Lösung darin, dass der Lehrer das Kind dort abholt, wo es ist, und es dann durch seine Stimme und Körpersprache runterholt. Ein Lehrer könnte zum Beispiel zu dem Schüler sagen: „Ich merke, dass du ganz schön wütend bist.“ Das Kind antwortet: „Ja, ich bin wütend, weil Schüler X nur eine Hausaufgabe bekommen hat und ich zwei.“ Dann sagt der Lehrer: „Das kann ich aber gut verstehen.“ Der Lehrer fängt an, sich selber zu erden und seine Stimme herunterzuschrauben. Durch diese Interaktion kann das Kind von seiner Welle herunterkommen, erklärt Reding.

Die Lehrer kommen ungeschützt und unvorbereitet in diese Umwelt hinein. Und was machen sie dann? Sie sagen sich: ‚Ich bin kein guter Lehrer.‘

Dr. Denise Reding-Jones, Psychologin

„Ich sage nicht, dass das immer funktioniert und dass es eine hundertprozentige Lösung ist“, so die Psychologin. „Aber wir haben nur ganz begrenzte Möglichkeiten, es sei denn, das Kind geht in eine Therapie.“ In der Situation, in der sich alles hochschaukelt, kann man laut Reding von einem Teufelskreis sprechen. „Es ist der Teufelskreis, in dem wir die Kinder irgendwann nicht mehr kontrolliert bekommen.“ Laut Reding kann er beim Lehrer ein sekundäres Trauma oder einen Burn-out auslösen. „Wir haben so viel engagiertes Lehrpersonal, das den Beruf aus einer Passion heraus gelernt hat“, sagt Reding. Diese Lehrer haben in ihrer Ausbildung allerdings nicht gelernt, was zu tun ist mit Kindern, die emotional komplett überfordert sind. „Die Lehrer kommen ungeschützt und unvorbereitet in diese Umwelt hinein. Und was machen sie dann? Sie sagen sich: ‚Ich bin kein guter Lehrer, ich müsste doch fähig sein, diese Klasse im Griff zu haben. Ich habe das doch gelernt.’“

In kurzer Zeit eine gesunde Bindung aufbauen

Während des Kolloquiums wurde eine interessante Anmerkung gemacht: Kinder, die Systeme sprengen, könnten durchaus eine starke Bindung zu ihren Eltern aufgebaut haben. Reding kann das bestätigen, sagt aber, dass eine starke Bindung nicht unbedingt auch immer eine gesunde Bindung ist. „Man kann innerhalb einer kurzen Zeit eine gesunde Bindung aufbauen, um Kinder und Jugendliche in den Griff zu bekommen. Dies kann nur über eine Bindung erfolgen.“

Der Perspektivenwechsel des Lehrers ist demnach ein Werkzeug. Laut Reding kann das allein aber nicht wirklich ausreichen. Auch das Schulsystem müsste sich verändern. Es lastet viel Druck auf dem Lehrpersonal. Dieses gibt den Druck weiter an die Schüler. „Da gibt es kein Heilmittel.“ Auch der einzelne Lehrer könne dagegen nicht viel tun. Das System sollte sich einer neuen Generation von Kindern anpassen, wo Mitgefühl eine große Rolle spielt und man den Schülern mehr Raum lässt. Die Psychologin nennt Beispiele von Schulen im Ausland, die sie besichtigt hat. In den USA, Kanada oder den Niederlanden gibt es Beispiele, wo man die Schulen geändert hat. „Man kann auch dort nicht behaupten, dass nie ein Kind ausflippt, aber solche Situationen sind dort drastisch zurückgegangen, da die Schüler ganz anders aufgefangen werden.“

Den Jugendlichen fehlt der soziale Kontakt unheimlich. Sie brauchen diese Kontakte in ihrer Entwicklung.

Dr. Denise Reding-Jones, Psychologin

„Die Kinder werden morgens, wenn sie in die Schule kommen, einzeln sehr lieb gegrüßt“, sagt Reding. Sie nennt es eine Art Ritual. Gerade Kinder, die Systeme sprengen, brauchen laut Reding eine extreme Struktur, sehr viele Rituale und ein sehr konsequentes Umfeld. In den ersten zehn bis 15 Minuten setzen sich Schüler und Lehrer zusammen und sprechen darüber, wie es jedem an diesem Tag geht. „So lernen die Kinder einer Klasse, sich auch gegenseitig zu unterstützen.“ Auch der Lehrer lernt seine Schüler dadurch besser kennen. „Jeder kommt in die Klasse mit seinem emotionalen Rucksack und ich habe keine Ahnung, was für ein Kind da sitzt.“

Wie aber sieht es bei den Jugendlichen in der Corona-Pandemie aus? Riskieren diese nicht, an den Restriktionen zugrunde zu gehen? „Den Jugendlichen fehlt der soziale Kontakt unheimlich“, sagt Reding. Das Alter, in dem dies besonders wichtig wird, liegt etwa bei zehn Jahren. „Da lösen sich die Jugendlichen langsam von ihren Eltern und fangen an, sich in ihrer Peer-Gruppe mit ihren Freunden wohlzufühlen.“ Reding beschreibt das Bild, wie die verschiedenen Gruppierungen laut in den Pausen immer so schön zusammenstehen: die Streber, die Kiffer, die Piekfeinen. „Die Jugendlichen brauchen in ihrer Entwicklung diese Kontakte.“ Sie glaubt, dass die Bevölkerungsschicht der 10- bis 30-Jährigen neben der aus dem dritten Alter jene ist, die am meisten unter den Kontakteinschränkungen leidet. Wie sich dies auf ihre Psyche auswirkt, werden künftige Studien wohl noch aufzeigen.

G.B.
3. Dezember 2020 - 18.46

@ Psychologe oder-gin CESHA. Bravo . Alles in einem Satz gesagt !

Charles Hild
3. Dezember 2020 - 18.07

Das eigentliche Problem liegt wohl darin, dass eine einzige Schülerin mit "Anpassungsschwierigkeiten" den normalen Unterricht auf den die 20 Mitschülerinnen ein fundamentales Recht haben, einfach jeden Tag sprengt. Und sie darf das. Nein, schlimmer, sie soll das tun um "Raum zu bekommen". Hier zählt dann am Ende nur noch eine Schülerin. Alle anderen müssen sich anpassen. Die können das ja. Aber Hallo! Spätestens nach den zweiten Handgreiflichkeiten mit bösen Verletzungen müsste die besagte Schülerin doch aus dem Unterricht entfernt werden. Das geschieht in Luxemburgs öffentlicher Schule jedoch nicht mehr!

CESHA
3. Dezember 2020 - 11.14

Ich vertrete die altmodische Ansicht, dass Lehrpersonal dafür da ist, den Kindern Wissen zu vermitteln und nicht, die Erziehungsmängel aus dem Elternhaus zu kompensieren.

J.Scholer
3. Dezember 2020 - 11.11

Sollte man nicht die Probleme in der Entwicklungsgeschichte unserer Gesellschaft suchen, wo Konsum, Spaß,Freizeit der Vorrang gegeben wird , die Menschen , durch gepredigte Toleranz und demokratisches Verständnis, sich nicht mehr in Strukturen einordnenden lassen. Strukturen erfordern immer eine bestimmte Disziplin und Einschränkungen. Etwas herbe ausgedrückt ,der Mensch steht dem Wolf nahe , homo homini lupus, das Funktionieren der Gesellschaft ,die sozialen Kontakte der Rudelmentalität unterliegen und das Rudel nur durch Führung und Unterordnung bestehen kann. Unsere Gesellschaft ist aus den Fugen geraten.Seit den 68 eine Liberalisierung , Auflösung der bestehenden Gesellschaftsstrukturen sich durchsetzt , sind wir am Punkt angelangt wo , sich jeglicher staatlicher Anordnung widersetzt ,das Arbeiten eher Nebensache, der angeborene Wohlstand , die Spaßgesellschaft zum allgemeinen Recht deklariert wird.