„Tour-Chef“ Cancellara rettete die Schlecks

„Tour-Chef“ Cancellara rettete die Schlecks

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Schrecksekunden gestern für Frank und Andy Schleck. Sie stürzten wie viele anderen Fahrer in der Abfahrt nach Stavelot und schlossen wieder zum Feld auf, weil Fabian Cancellara Order zu einer „Neutralisierung“ des Rennens gab. Es siegte der Franzose Sylvain Chavanel.

Aus Spa berichten „T“-Redakteur Kim Hermes (khe) und „T“-Radsport-Experte Petz Lahure (P.L.)

„Es war wie im Krieg“, sagte Lance Armstrong im Ziel. „In Sekundenbruchteilen gingen Körper zu Boden, mehr oder weniger schwer getroffen.“ Mit der ihm eigenen Dramatik schilderte der Amerikaner die Szenen, die sich in der Abfahrt des Col du Stockeu, etwas mehr als 30 km vor dem Ziel in Spa abspielten.

Auf der Straße nach Stavelot, die den meisten Luxemburgern, die Liège-Bastogne-Liège regelmäßig verfolgen, bestens bekannt ist, hatte der Regen den Staub auf dem Asphalt zu Schmierseife gemacht. Rennleiter Jean-François Pescheux, der später auf Fabian Cancellaras Bitte einwilligte, zumindest das Punkteklassement ab dem zweiten Rang nicht zu werten, sprach sogar von Glatteis im Sommer.
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von unserem Fotografen
Gerry Schmit

Dabei hatte er Tränen in den Augen, denn das, was sich dort eine Stunde vorher in der Abfahrt abspielte, hatte mit Sport nur noch wenig gemein. Auf dem aalglatten Streckenabschnitt schlitterten die Favoriten und Nichtfavoriten über den Hosenboden, es krachten Rennräder gegen die Bäume, und die Begleitwagen rutschten, so dass auf dem nassen Untergrund schon Rallye-Fahrkünste gefragt waren, um eine Katastrophe zu verhindern.

Das schien das Ende

Neben Alberto Contador, Lance Armstrong, Cadel Evans und Bradley Wiggins gingen auch Andy und Frank Schleck zu Boden. Andy hatte gar doppeltes Pech. Auf einer Distanz von nur 300 m stürzte er gleich zweimal. Die beiden Luxemburger gehörten neben Christian Vande Velde, Vladimir Karpets und Tyler Farrar zu den Fahrern, die es am schlimmsten traf.

Im Leben aber hat man manchmal auch Glück im Unglück. Als der Rückstand von Andy und Frank so um die fünf Minuten auf die Spitzengruppe betrug, schien die Tour 2010 definitiv für die Schlecks verloren zu sein. Wie aus heiterem Himmel bot sich die Rettung in Form einer Aktion an, wie sie nur ein charismatischer Sportler wie Fabian Cancellara einleiten kann.

Da besondere Vorkommnisse besondere Maßnahmen erfordern, unterbreitete „Canci“, der sich dank seiner Persönlichkeit zum neuen Chef auf den Straßen der Tour gemausert hat, seinen Kollegen im ersten Teil des Pelotons einen Nichtangriffspakt. Alle waren einverstanden.

„Es passierte auf einer Geraden – abwärts – und es war Öl oder etwas ähnliches auf der Straße. Das ganze Peloton lag am Boden“, erzählte Cadel Evans im Ziel: „Sorry an die Zuschauer, dass wir kein Rennen mehr gefahren sind. Aber das wäre gegenüber den Verletzten nicht fair gewesen.“ „T“-Informationen zufolge hatte ein ebenfalls zu Boden gegangenes Kamera-Motorrad von France Télévisions Öl verloren.

Als alle Favoriten (bis auf Vande Velde und Cunego) vorne wieder mit dabei waren, organisierte Cancellara mit Rennleiter Jean-François Pescheux ein neutrales Finish. Die vorher gestürzten Ciolek, Cavendish, Farrar und Petacchi hätten ohnehin nicht sprinten können. Die vier Anwärter auf das „Maillot Vert“ kamen mehr als zehn Minuten hinter Sieger Chavanel ins Ziel.

„Fairness wichtiger“

„Weil der Radsport nun mal auf Straßen ausgetragen wird, über deren Zustand oft Ungewissheit herrscht, kann es zu unerwarteten Situationen kommen“, meinte Pescheux: „Das, was die Fahrer gemacht haben, entspricht einem ’accord de bonne conduite‘.“ Cancellara selbst verzichtete aus eigenen Stücken aufs „Maillot Jaune“ und ließ Sylvain Chavanel vorne laufen. „Ich bin nicht gestürzt und hätte das Leadership spielend verteidigen können“, sagte der Schweizer Zeitfahr-Weltmeister: „Diese Fairnessgeste aber bringt mir persönlich mehr als ein weiterer Tag im Gelben Trikot.“

Cancellara ließ das Leadertrikot zwar gestern sausen, doch will er es schon heute auf der gefürchteten Etappe über die Kopfsteinpflaster (siehe S. 29) schon wieder zurückerobern. „Er ist so stark, dass er nicht einmal merkt, dass sich am Sonntag 100 Kilometer vor dem Ziel ein Plastiksack eines Zuschauers in seinem Wechsel verfangen hat“, sagte sein Landsmann Grégory Rast: „Wir pedalierten nebeneinander und redeten über die Massen von Zuschauern an den Straßen in Holland und Belgien. Bis einer von hinten rief: ‚He, du hast einen Plastiksack im Wechsel!‘ Da schaute ’Fäbu‘ (wie „Canci“ in Bern genannt wird, d. Red.) hinunter zur Kette und rief ins Mikrofon: ’Ich habe Probleme mit dem Wechsel, ich komme zum Materialwagen‘.“

P.L.