LuxemburgSenioren und das Coronavirus: Wenn ältere Menschen allein zu Hause bleiben müssen

Luxemburg / Senioren und das Coronavirus: Wenn ältere Menschen allein zu Hause bleiben müssen
Die Corona-Pandemie machte aus betagten Senioren und Menschen in den besten Jahren eine Gesellschaftsgruppe, die plötzlich als Risikogruppe der Bevölkerung galt. Wissenschaftler der Universität Luxemburg untersuchen in einer großangelegten Studie, wie die Senioren mit der Situation umgehen und welche Lehren Behörden, Pflegeeinrichtungen und die Gesellschaft für die Zukunft im Umgang mit älteren Menschen ziehen können. Symbolfoto: dpa/Jonas Güttler

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Wie fühlt es sich an, plötzlich von „Menschen in den besten Jahren“ zu „Menschen einer Risikogruppe“ zu werden? Was macht die Stigmatisierung mit einem? Diese Fragen stellten Forscher der Universität Luxemburg Betroffenen im Großherzogtum. Im ersten Teil unserer Reportage über die Studie geht es um Schubladendenken und wissenschaftliche Feldforschung in Krisenzeiten.

„Das Projekt ist am 1. Juni angelaufen“, sagt Dr. Isabelle Albert im Tageblatt-Gespräch. Gemeinsam mit Dr. Josepha Nell, die auch am Institut für Lebensspannenentwicklung, Familie und Kultur der Universität Luxemburg tätig ist, führt sie die „Crisis“-Studie durch. Das Forschungsprojekt wird vom Luxembourg National Research Fund (FNR) finanziert und gliedert sich ins Programm zur Erforschung der Auswirkungen der Corona-Pandemie in Luxemburg ein. Die Studie soll Ende 2020 abgeschlossen sein und nützliche Lehren für die Zukunft in Bezug auf den Umgang mit älteren Menschen im Rahmen der Pandemie liefern.

Dr. Isabelle Albert ist Psychologin und forscht mit Dr. Josepha Nell am Institut für Lebensspannenentwicklung, Familie und Kultur der Universität Luxemburg
Dr. Isabelle Albert ist Psychologin und forscht mit Dr. Josepha Nell am Institut für Lebensspannenentwicklung, Familie und Kultur der Universität Luxemburg Foto: Editpress-Archiv/Isabella Finzi

Die kurze Projektzeit und die sich ständig ändernde Erkenntnislage zu Covid-19 stellten die Forscherinnen vor Herausforderungen: „Wir mussten schnell ins Feld gehen, haben Fragebogen auf Luxemburgisch, Portugiesisch, Deutsch und Französisch entwickelt“, erklärt Albert.

Mit der „Crisis“-Studie wollen die Forscherinnen den Umgang von Gesellschaft und Pflegeeinrichtungen mit älteren Menschen ab 60 Jahren während des mehrwöchigen Lockdowns und in den Monaten danach untersuchen. Sie schauen besonders auf Elemente wie mentale Widerstandsfähigkeit (Resilienz) bei Krisenbewältigung, Einsamkeit, Risikolage, Selbsteinschätzung, Selbstbewusstsein und Kommunikation.

Zu Beginn des Projekts wurde mithilfe des Umfrageinstituts TNS Ilres ein repräsentativer Schnitt der Untersuchungsgruppe erfasst und zunächst telefonisch oder online befragt. Anschließend wurden in Zusammenarbeit mit mehreren CIPAs („Centres intégrés pour personnes âgées“) die betroffenen Seniorinnen und Senioren dazu befragt, wie sie ihre Situation und ihr Wohlbefinden während des Lockdowns einschätzten. Diese Studienteilnehmer beantworteten einen ähnlichen Fragebogen wie der repräsentative Teil der Teilnehmer aus Privathaushalten; zusätzlich konnten sie aber zu ein paar offenen Fragen persönliche Erlebnisse schildern, erklärt Josepha Nell.

Anfang Juli wurde die Erhebungsphase beendet. An der ersten Befragungsetappe nahmen 611 Seniorinnen und Senioren teil. Eine zweite wissenschaftliche Fragerunde mit 500 Teilnehmern findet momentan statt.

Zielgenauer Einblick in die Gefühlswelt von Senioren

„Wir möchten erfahren, wie sich das Erleben der Corona-Krise verändert hat“, sagt die Psychologin Isabelle Albert. Während sich viele Studien mit dem psychischen Befinden der Gesamtbevölkerung beschäftigen, standen „ältere Menschen, die anfangs der Pandemie als die Risikogruppe schlechthin ausgemacht wurden, weniger im Blickfeld der Untersuchungen“, so Isabelle Albert.

Die jetzige Studie untersucht deshalb zielgenau, wie Seniorinnen und Senioren die Pandemie erleben, welche mittel- und langfristigen Folgen das Coronavirus und die Erkrankung in der Seele älterer Menschen hinterlässt. „Denn die Regeln im ,Confinement’ waren sehr streng.“ Soziale Isolation und Distanz, die damit einhergehenden psychischen Belastungen und das Dasein als Risikogruppe prägten während Wochen ihren Alltag.

Außerdem wollen die Forscherinnen genau hinschauen, welche Auswirkungen es auf die Psyche hat, von vornherein Teil einer Risikogruppe und dadurch besonders eingeschränkt zu sein. Aber auch wie „verschiedene Generationen Senioren“ mit dem Bewusstsein, Teil einer Risikogruppe zu sein, umgehen, wie sich ihre „unterschiedlichen Erfahrungen und das Befinden an unterschiedlichen Punkten in der Lebensspanne auf die Psyche auswirkt“.

Die Soziologin Dr. Josepha Nell, Forscherin am Institut für Lebensspannenentwicklung, Familie und Kultur der Universität Luxemburg
Die Soziologin Dr. Josepha Nell, Forscherin am Institut für Lebensspannenentwicklung, Familie und Kultur der Universität Luxemburg  Foto: Uni.lu

Darüber hinaus erhoffen sich die Wissenschaftlerinnen „einen guten Blick in die Zukunft“, wie man mit dem Coronavirus in Alten- und Pflegeheimen umgehen könnte, ergänzt Josepha Nell.

Die entscheidende Lebenserfahrung

Eine wichtige Rolle, wie Menschen mit Krisen umgehen, spielt ihre Lebenserfahrung. Darauf achten die Forscherinnen Albert und Nell ganz besonders. „Denn die Menschen, die wir befragen, bringen eine ganz große Lebenserfahrung mit“, sagt Isabelle Albert. Sie hätten womöglich andere Krisen erlebt und gelernt, wie man mit solchen Hindernissen umgehen kann, vermutet die Psychologin.

Als Beispiel nennt sie verwitwete Seniorinnen oder Senioren, die seit längerem alleine leben und sich ein Rüstzeug zugelegt haben, mit dem Alleinsein zurechtzukommen. Diese Widerstandskraft nennen Psychologen „Resilienz“. Sie zu besitzen und zu nutzen, habe möglicherweise in der Zeit der Abgeschiedenheit geholfen, das Alleinsein besser zu meistern.

Resilienz betrifft nicht nur den Einzelnen. Wie Familien Krisen meistern, sagt deutlich etwas über ihren Zusammenhalt oder dessen Fehlen aus. Für die Wissenschaftlerinnen ist es daher wichtig, Angaben über den familiären Kontext der Betroffenen zu haben. Auch Freunde und Nachbarn können in Krisenzeiten zu wichtigen Unterstützern werden.

Der Umgang mit der Krise: von mutig bis eingeschüchtert

Gezielte Fragen in den Erhebungsbögen sollen den beiden Forscherinnen einen präziseren Einblick erlauben, wie Seniorinnen und Senioren mit Lebenskrisen umgehen und wie sie diese bewältigen. Eine einzige, eindeutige Antwort auf die wissenschaftlichen Fragen erwartet sich Isabelle Albert nicht: „Wir haben mehrere Möglichkeiten“, erklärt sie. „Die eine Gruppe Menschen, die sagen, ich fühle mich total fit und keineswegs alt. Sie gehen möglicherweise mehr Risiken ein.“ Gleichzeitig gibt es das genaue Gegenteil, wenn die charakteristischen Eigenschaften einer Risikoperson einen völlig verunsichern: „Das sind Menschen, die sich nicht mehr trauen, das Haus zu verlassen und dadurch abhängiger als bisher werden.“

Die Soziologin Josepha Nell betreute den Ablauf der Interviews in den CIPAs, wo 84 Bewohner an der Studie teilnahmen. „Wir wollten wissen, wie diese Menschen die intensiven zehn Wochen des Lockdowns erlebt haben?“ Nell berichtet aus Gesprächen mit Direktoren von Pflegeheimen, die erklärten, dass Bewohner und Angehörige anfangs dankbar über die getroffenen „Schutzmaßnahmen“ gewesen seien. „Aber diese acht, neun Wochen haben sehr stark an der Psyche gezerrt, sodass im Laufe der Zeit die Sehnsucht nacheinander bei Bewohnern und ihren Angehörigen immer größer wurde“, sagt Nell. Die Soziologin beschreibt diese Corona-Zeit als „etwas sehr Prozesshaftes“. Ebenso wie die Wahrnehmung und der Umgang mit der Pandemie. Die Entwicklung im Fluss, in der Realität nachzuvollziehen, dafür bieten die Interviews in den Seniorenheimen eine unmittelbare Möglichkeit, so Nell.

„Diese Studie versteht sich zudem als Sprachrohr der älteren Menschen. Wie nehmen sie persönlich die Umstände wahr?“ Die Erkenntnisse über die Bedürfnisse der älteren Menschen, so die Soziologin, können im Umgang mit einer zweiten Welle bzw. den momentan wieder steigenden Infektionszahlen sehr nützlich sein. „Darum geht es bei der Studie: Denjenigen das Wort zurückzugeben, die von der Gesellschaft als Risikogruppe eingestuft wurden, und genau zuzuhören, was diese Menschen zu sagen haben“, sagt Josepha Nell.

Die Studie soll nicht nur aufzeigen, wie die Resilienz, also die psychische Widerstandskraft, bei den Bewohnern, sondern auch bei den Alten- und Pflegeheimen selbst zum Tragen kam. „Wie haben die Einrichtungen die neue Situation gemeistert?“, fragt Josepha Nell und fügt hinzu: „Ich war schwer beeindruckt, wie sehr sich die CIPAs bemüht haben, ein normales Leben für die Bewohner aufrechtzuerhalten.“ Sowohl die Mitarbeiter als auch die Direktionen hätten „extrem viel gemacht“, damit in dem durch Corona vorgegebenen Rahmen ein „normaler Alltag“ überhaupt möglich war: Die Bewohner mussten nicht in ihrem Zimmer bleiben, Kontakte mit den anderen Bewohnern wurden so weit wie möglich gefördert, die Kommunikation mit den Angehörigen fand am Balkon oder Fenster statt, Skyperäume wurden eingerichtet, „sodass die CIPAs den Alltag im ,Confinement’ eigentlich nicht viel anders organisiert haben als die betroffenen Menschen zu Hause“, stellt Nell fest.

Trotzdem gebe es Perioden, in denen die mentale Widerstandskraft besonders gut ausgeprägt sei, und andere, vor allem während einer so langen Abgeschiedenheit, in denen die Resilienz stärker leide, sagt die Soziologin. „Die Bevölkerung 60+ ist keine passive Gruppe. Jeder hat für sich Strategien entwickelt, um mit der Situation, mit der Einsamkeit, umzugehen – sei es durch neue Freundschaften unter den Bewohnern oder durch neue Wege, um seinen Lieben nahe zu sein.“ Die Ausprägung der Widerstandskraft sei ganz eng mit der Zusammensetzung der Seniorengruppe verknüpft. Resilienz sei eben nichts Statisches.

Observer
22. Oktober 2020 - 15.03

Alleine mit Gott! Schützt garantiert vor Corona!

HTK
21. Oktober 2020 - 12.54

Seit Äonen sitzen viele Senioren alleine in ihren Zimmern und schauen gegen die Wand. Jetzt mit Corona werden sie zum interessanten Studienobjekt.