BelarusSchriftsteller Martinowitsch im Interview: „Die Staatsmacht reagiert typisch, das Volk nicht“

Belarus / Schriftsteller Martinowitsch im Interview: „Die Staatsmacht reagiert typisch, das Volk nicht“
Obwohl sich immer mehr Menschen an den Protesten in Belarus beteiligen, gibt Staatschef Lukaschenko nicht nach. Neuwahlen lehnt er ab, einen Dialog auch.  Foto: AFP/Sergeij Gapon

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1977 in Aschmjany, einer Kleinstadt im Nordwesten von Belarus, geboren, unterrichtet Viktor Martinowitsch seit mehr als einem dutzend Jahren in Vilnius im Nachbarland Litauen. In Belarus darf er an keiner Universität lehren. Auch sein Roman „Paranoia“ wurde kurz nach Veröffentlichung im Dezember 2009 in Belarus verboten. Bald erscheint sein neues Buch „Revolution“ auf Deutsch im Verlag Voland & Quist. Im Interview erklärt Martinowitsch, was an den jetzigen Protesten so bemerkenswert ist – und was für eine Rolle die Frauen dabei spielen. 

Tageblatt: Die Belarussen galten immer als sehr geduldiges Volk. Nun gibt es einen großen Stimmungswandel seit November 2019, als Alexander Lukaschenko ein neues Parlament „wählen“ ließ.

Viktor Martinowitsch: Dieser Aufbruch erstaunt uns Belarussen genauso. Ich lebe die Hälfte der Zeit in Litauen, wo ich in Vilnius an der Uni lehre, und in Minsk, wo ich nicht an der Uni lehren darf. Aber dieses Jahr bin ich wegen Corona seit Februar in Minsk. Was hier passiert, ist nicht typisch. Die Regierung reagiert typisch, aber das Volk nicht. Ein Beispiel ist Swetlana Tichanowskajas erzwungene Ausreise nach Litauen. Das ist typisch Regierung: Tichanowskaja kommt zur zentralen Wahlkommission, dort wird sie festgehalten und dann nach Litauen deportiert. Früher hätte das Volk gefunden, sie hätte es verraten. Und genau damit rechnete die Staatsmacht. Und was passiert heute? Das Volk sagt: „Tichanowskaja ist unschuldig, wir müssen uns vereinen und ihr helfen!“

Woher kommt dieser Wandel?

Ich sehe zwei Faktoren: Erstens haben sich Lukaschenko und seine Regierung bei der Corona-Pandemie genauso verhalten wie die Sowjetführung 1986 bei Tschernobyl: Die Wahrheit wurde verschwiegen, Lügen aufgetischt, die Opferzahlen massiv gedrückt. Schon früher hatte die Regierung gelogen, doch diesmal ging es um etwas, was allen sehr nah ist: Leben und Tod. Zweitens haben die Spannungen zwischen Belarus und Russland eine Wirtschaftskrise ausgelöst, die vor allem Bürger betrifft, die in Staatsbetrieben und beim Staat arbeiten und Lukaschenko deshalb bisher eher unterstützt haben. Das hat zu einer Verarmung ganzer Schichten geführt. Nachdem Lukaschenko sich Ende 2019 geweigert hatte, die zuvor Putin versprochene Integrations-Roadmap zu unterzeichnen, brachen nicht nur russische Subventionen weg, sondern auch die Absatzmärkte in Russland.

Gehört nicht auch eine gewisse Polizeibrutalität dazu, die bereits vor den Präsidentenwahlen begann?

Die im Vergleich zu heute viel geringere Polizeibrutalität war eine Reaktion auf die freie politische Konkurrenz. Aus dem Nichts tauchten drei starke Gegenkandidaten auf. Der sehr beliebte Vlogger Sergej Tichanowski wurde als Erster ins Gefängnis geworfen. Das hat das Volk sehr erzürnt, denn er war ein Star in Belarus. Dann folgte der Banker Viktor Babariko von der „BelGazpromBank“. In der Folge dieser beider Verhaftungen wurde der Telegram-Kanal „Nexta“ sehr beliebt. Der App-basierte Kanal wird heute von 1,5 Millionen Belarussen verfolgt, das ist jeder vierte Wähler!

Wer steht hinter den Protesten?

Niemand. Diese Proteste sind spontan organisiert. Das zeigte sich Montag bis Mittwoch, als das Internet ausfiel und der Telegram-Kanal „Nexta“ das Volk aufforderte, ins Stadtzentrum zu ziehen. Stattdessen versammelten sich die Demonstranten aber dezentral vor U-Bahnstationen oder einfach vor ihren Wohnblocks. So kam es zu mindestens zehn Protestherden in Minsk, die die Sicherheitskräfte in der ganzen Stadt verteilten. Solche Proteste sind umso erstaunlicher vor dem Hintergrund der perfekten Diktatur und seines perfekten Polizeistaats. Belarus kennt viel striktere Regeln als Russland. Die Russen sind im Vergleich zu uns freie Bürger.

Frauen spielen eine entscheidende Rolle. Nach all der Gewalt hatten die meisten Angst, wieder auf die Straße zu gehen. Die Frauen kalkulierten richtig, dass niemand es wagen würde, sie anzugreifen.

Sind vor diesem Hintergrund große Protestzüge vor das Regierungsgebäude nicht eine falsche Strategie, vielleicht gar eine Falle?

Wir haben keine Polit-Strategen. Alle wurden längst vertrieben. Aber vor dem Regierungsgebäude waren am Freitag im Unterschied zu den bisherigen Demos weder Junge noch Hipster, sondern Arbeiter. Die Sicherheitskräfte werden es auch künftig nicht wagen, sie anzugreifen, denn diese Demonstranten wissen sich im Gegensatz zu uns zu wehren und sie werden sich wehren. Sie werden jeden einzelnen Festgenommenen verteidigen. Bisher hat Lukaschenko immer gesagt, die Demonstranten seien bezahlte Berufsoppositionelle. Doch Staatsbetriebsarbeiter sind genau das Gegenteil. Das macht solche breit abgestützten Demonstrationen für die Staatsmacht so schwierig.

Wie könnte es nun weitergehen?

Wir brauchen drei Säulen: erstens Diplomatie. Wir müssen dem Westen erklären, dass Lukaschenko nicht der amtierende, sondern der Ex-Präsident ist – und Tichanowskaja als Übergangspräsidentin portieren, die das Land bis zu fairen Neuwahlen führt. Zweitens brauchen wir weiterhin massive Straßenproteste. Und drittens müssen die Streiks weitergehen. Solche Streiks sind übrigens völlig neu, so was gab es seit der Unabhängigkeit von 1991 noch nie.

Welche Rolle spielen dabei die belarussischen Frauen?

Frauen spielen eine entscheidende Rolle. Die Solidaritätsketten der weiß gekleideten Frauen vom Mittwoch waren völlig spontan und entscheidend für die Protestbewegung. Nach all den Gummischrotwunden und der Gewalt hatten die meisten Angst, wieder auf die Straße zu gehen. Die Frauen kalkulierten richtig, dass niemand es wagen würde, sie anzugreifen. Frauen spielen in Belarus eine andere Rolle als in Russland oder Litauen. In Belarus waren Frauen immer wichtig und de facto für das Überleben des Landes zentral. Alleine im Zweiten Weltkrieg wurde ein Viertel der Bevölkerung getötet, vor allem Männer. Frauen haben dieses Land wiederaufgebaut. Frauen sind hier immer potenzielle Landesführerinnen.

Der Zweite Weltkrieg galt bisher als Erklärung für die belarussische Gleichmütigkeit.

Genau, wegen dieser historischen Erfahrung und den hohen Opfern gelten wir Belarussen als still, tolerant gegenüber Unrecht und energielos. Still sitzen und nicht auffallen gilt als Tugend. Umso erstaunlicher ist, was jetzt gerade passiert.

Viktor Martinowitsch
Viktor Martinowitsch Foto: Wikipedia Commons