RechtsstaatlichkeitRegierungen in Warschau und Budapest im Dauerclinch mit Brüssel

Rechtsstaatlichkeit / Regierungen in Warschau und Budapest im Dauerclinch mit Brüssel
Noch marschieren sie zusammen: der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki (r.) und sein ungarischer Amtskollege Viktor Orban  Foto: Tamas Kovacs/MTI viaAP

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Polen und Ungarn haben am Montag zwar ein Veto gegen den mehrjährigen EU-Haushaltsplan (2021-2027) sowie den Wiederaufbaufonds eingelegt, die beide ein Finanzvolumen von 1.800 Milliarden Euro haben. Abgesehen haben es die Regierungen in Warschau und Budapest jedoch auf ein Gesetz, das die Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien knüpft. Dies wollen die beiden verhindern.

Der ungarische Regierungschef Viktor Orban und der Chef der polnischen Regierungspartei PiS Jaroslaw Kaczynski liegen schon richtig mit ihrer Annahme, dass mit der Einführung des sogenannten Rechtsstaatsmechanismus vor allem ihre Länder im Visier stehen. Grundsätzlich aber kann der Mechanismus gegen jedes EU-Mitgliedsland eingesetzt werden, der gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstößt. Auch in anderen Ländern gibt es Mängel, wie etwa in Bulgarien, Rumänien oder Kroatien, wie der erste Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in der EU zeigt, der Ende September von der Kommission vorgelegt wurde. So weit wie die Regierungen in Polen und Ungarn haben es andere bislang jedoch noch nicht getrieben.

Seit Jahren bereits liegt Viktor Orban mit der Kommission in Brüssel im Clinch, deren Aufgabe es unter anderem ist, dafür zu sorgen, dass die Mitgliedstaaten die gemeinsam anerkannten Regeln einhalten. Sowohl in Ungarn, aber auch in Polen, haben die jeweiligen Regierungen es darauf abgesehen, sich die Justiz gefügig zu machen. Vermutlich, damit das Regieren noch leichter von der Hand gehen soll. Denn politisch braucht Viktor Orban nichts zu befürchten. Seit 2010 hat er mit seiner Partei Fidesz durchgehend eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, die es ihm erlaubt hat, zwischenzeitlich mehrmals die Verfassung zu ändern. Und auch in Polen konnte die regierende national-konservative PiS von Jaroslaw Kaczynski bei den Parlamentswahlen im vorigen Jahr ihre absolute Mehrheit verteidigen. Derart bestätigt, versuchen beide ihren Einflussbereich im Staat auszuweiten. Vor allem im Justizwesen, obwohl ebenfalls die Pressefreiheit, wenn auch in unterschiedlichem Maße, in beiden Ländern ausgehöhlt wurde.

Die seit 2015 regierende PiS hatte es mit der Reform des Justizwesens allerdings derart übertrieben, dass die Kommission unter Präsident Jean-Claude Juncker sich dazu genötigt sah, zwei Jahre später, im Dezember 2017, das erste Verfahren nach Artikel 7 des Lissabonner Vertrages gegen Polen einzuleiten. Dieser auch schon mal als „Atombombe“ bezeichnete Vertragsartikel sieht ein Verfahren in mehreren Stufen vor, wenn „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht“ (siehe Infobox). Am Ende eines solchen Verfahrens können dem betroffenen EU-Staat bestimmte Rechte, einschließlich der Stimmrechte im Rat, entzogen werden. Die Kommission warf der Regierung in Warschau damals vor, die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt und die Judikative dem politischen Einfluss der Regierung sowie des Parlaments ausgesetzt zu haben.

Verfahren ohne Fortschritte

Im September 2018 forderte das Europäische Parlament (EP) mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit den Rat auf, ein Verfahren nach Artikel 7 gegen Ungarn einzuleiten, da im Lande die Gefahr einer systemischen Bedrohung der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte bestehe. Die EP-Abgeordneten listeten eine Reihe von Beanstandungen auf, die sich unter anderem von der Funktionsweise des Verfassungs- und Wahlsystems über die Unabhängigkeit der Justiz und anderer Institutionen, Korruption und Interessenkonflikte, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die akademische Freiheit bis hin zum Schutz von Minderheiten vor hetzerischen Äußerungen erstreckten.

Allerdings versicherten sich die Regierungen Ungarns und Polens der gegenseitigen Unterstützung in den Verfahren. Was so viel bedeutete, dass es nicht dazu kommen würde. Denn der entsprechende Beschluss im Ministerrat muss einstimmig gefasst werden, womit ein Verfahren mit einem Veto der beiden verhindert werden kann. Selbst die Diskussionen zwischen den 27 im zuständigen „Rat für Allgemeine Angelegenheiten“ schienen nicht besonders ergiebig gewesen zu sein. Denn in einer im Januar dieses Jahres verabschiedeten Entschließung bedauern die EU-Parlamentarier, dass „die Anhörungen (im Rat, d. Red.) noch zu keinen nennenswerten Fortschritten der beiden betreffenden Mitgliedstaaten bei der Beseitigung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 EUV genannten Werte geführt haben“.

Der nun zwischen dem Rat und dem EP ausgehandelte Rechtsstaatsmechanimus geht auf eine Vorlage der EU-Kommission zurück, welche diese im Rahmen ihres ersten Vorschlags zum mehrjährigen Finanzrahmen (MFR), also das EU-Budget für die Jahre 2021-2027, Anfang Mai 2018 vorgelegt hatte. Bei den viertägigen Verhandlungen über den MFR im vergangenen Juli spielte der Mechanismus eine eher untergeordnete Rolle. Die Festlegungen der 27 dazu in ihrer fast 70 Seiten umfassenden Schlusserklärung waren derart knapp und nichtssagend, dass Viktor Orban jubelte und behaupten konnte, Ungarn und Polen hätten „ihren nationalen Stolz verteidigt“, wie die Süddeutsche Zeitung damals schrieb.

Kommissionsvorschlag verwässert

Der deutsche EU-Ratsvorsitz verwässerte zudem den Kommissionsvorschlag zum Rechtsstaatsmechanismus zusätzlich, womit dieser ein ebenso nutzloser Papiertiger werden sollte, wie es das Verfahren nach Artikel 7 bislang war. Dagegen bildete sich fraktionsübergreifend Widerstand im EP. Ohne ein effizientes und verbindliches Instrument, mit dem Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen die Rechtsstaatichkeit EU-Gelder vorenthalten werden könnten, würde es keine Zustimmung zum EU-Budget und dem 750 Milliarden Euro schweren Corona-Hilfsfonds für EU-Staaten geben, ließen die EU-Parlamentarier wissen.

Vor zwei Wochen einigten sich Rats- und EP-Vertreter schließlich auf ein Gesetz zum Rechtsstaatsmechanismus, das Letztere als einen „Meilenstein für den Schutz der EU-Werte“ betrachten. Einer Mitteilung des EP zufolge würden die neuen Regeln nicht nur angewandt, wenn EU-Gelder durch Betrug und Korruption direkt missbraucht würden, sondern auch bei systemischen Verstößen gegen die Grundwerte der Union. Dabei sollten auch Steuerbetrug und -hinterziehung mit einbezogen werden. Die Zeitspanne, ab der Strafen verhängt werden können, haben die EP-Abgeordneten von ursprünglichen 12-13 Monaten, wie es dem Rat vorschwebte, auf 7-9 Monate verkürzen können. Durchsetzen konnten die Parlamentarier zudem, dass Endempfänger von EU-Geldern, wie Studenten (Erasmus), Landwirte oder Vereine und Organisationen nicht für die Fehler ihrer Regierungen büßen müssen und dennoch ihre Zuwendungen erhalten.

An der neuen Regelung lassen die EU-Parlamentarier nicht mehr rütteln. Im Rat sind Ungarn und Polen in dieser Frage ebenfalls weitgehend isoliert, zumal sie durch ihr Veto zum EU-Budget und dem Wiederaufbaufonds die Zahlung von vielen Milliarden Euro an Hilfsgeldern an wirtschaftlich geschwächte EU-Staaten hinauszögern. Wie die derzeitige Blockade jedoch anders als durch die Aufgabe der Veto-Haltung Ungarns und Polens zu lösen ist, war bis gestern nicht absehbar.

Nicht nur Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit

Mit dem neuen Gesetz sollen nicht nur Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit geahndet werden – so wie es die Bezeichnung „Rechtsstaatsmechanismus“ vermuten lässt – sondern gegen alle Grundwerte der EU, wie sie in Artikel 2 des Lissabonner Vertrages wie folgt festgelegt sind: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

HTK
20. November 2020 - 9.12

Im Marschieren kennen diese Leute sich aus. Orban's Visage spricht Bände.