Unabhängigkeit der JustizRechtsstreit zwischen Polen und EU spitzt sich gefährlich zu

Unabhängigkeit der Justiz / Rechtsstreit zwischen Polen und EU spitzt sich gefährlich zu
Die Kaczynski-Regierung wertet den EuGH-Entscheid zur Justizreform als „politisches Urteil“  Foto: AFP/Grzegorz Jakubouski

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Der Europäische Gerichtshof hat Teile der PiS-Justizreform als EU-Rechtsbruch erklärt. Doch die polnische Regierungspartei denkt nicht an eine Umkehr. Der Rechtsstreit zwischen Warschau und der EU spitzt sich so gefährlich zu. Am Ende könnte ein EU-Austritt Polens stehen.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat sich in einem abschließenden Urteil gegen einen zentralen Teil der polnischen Justizreform ausgesprochen. Die neue Disziplinarordnung für Richter verstoße „gegen Verpflichtungen aus dem Unionsrecht“, urteilte das oberste EU-Gericht. Vor allem biete die neu geschaffene Disziplinarkammer „nicht alle Garantien für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit“, heißt es in dem Urteil.

Die 2018 von der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) im Rahmen ihrer umstrittenen Justizreform geschaffene Disziplinarkammer am Obesten Gerichtshof wird von einem politisch nicht mehr unabhängigen Landesjustizrat (KRS) mit dorthin delegierten Sonderrichtern bestellt und entscheidet über Immunitätsverlust, Lohnkürzungen, Aussetzungen bis zu Berufsverbot von Richtern.

Weg der Konfrontation

Unter anderem wegen der umstrittenen Disziplinarkammer hatte die EU-Kommission im Oktober 2019 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen gestartet. Im April 2020 ordnete der EuGH in einer Eilentscheidung an, dass die Disziplinarkammer ihre Arbeit bis zur Klärung des Falls einstellen müsse. Doch diese befasste sich weiterhin mit ihr zugetragenen Fällen. Im November hob die Disziplinarkammer etwa die Immunität von Richter Igor Tuleya auf, der von Amnesty International als Menschenrechtsverteidiger anerkannt wird.

Am Mittwoch erließ der EuGH erneut eine einstweilige Verfügung gegen die Disziplinarkammer. Polen muss demnach die Anwendung von Vorschriften zu deren Zuständigkeiten sofort aussetzen. Es geht dabei vor allem um das sogenannte „Maulkorbgesetz“, das den Richtern öffentliche Kritik an der PiS-Justizreform verbietet.

„Dieses EuGH-Urteil bedeutet, dass die Disziplinarkammer kein Recht hat, weiterzuarbeiten“, kommentierte der EU-Rechtsgelehrte Piotr Bogdanowicz auf Polens größtem Nachrichtenportal onet.pl. „Auch die Bestellung der Disziplinarkammer war nicht EU-rechtskonform“, fügte er an. Dennoch rechnet Bogdanowicz damit, dass Warschau weiterhin den juristischen Kriegspfad mit Brüssel beschreiten wird. Die Disziplinarkammer könnte sich einstweilen mehr um Staatsanwälte und Advokaten kümmern, vermutet er. „Um die eigene Wählerschaft bei der Stange zu halten, geht das Seilziehen weiter“, schätzt Bogdanowicz. Dabei werde PiS austesten, ob der EuGH in einem nächsten Schritt wirklich Finanzstrafen für jeden Tag der Nichtumsetzung des Urteils beschließe oder die EU-Kommission gar die Zahlung von EU-Mitteln einfriere.

Dass die polnische Regierung genau diesen Weg der Konfrontation einschlagen will, darauf deutet ein Urteil des seit 2016 völlig PiS-dominierten polnischen Verfassungsgerichts vom Mittwoch hin. Dieses hatte tags zuvor in Warschau entschieden, dass die Anordnungen des EuGH gegen Polens Justizreformen nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien. Die Entscheidungen zum „System, den Prinzipien und Abläufen“ seien verfassungswidrig, begründete Verfassungsrichter Stanislaw Piotrowski, ein einstiger kommunistischer Staatsanwalt, das Urteil. Damit will sich die Kaczynski-Regierung vor allem gegen die Umsetzung einstweiliger Verfügungen des EuGH zur umstrittenen Disziplinarkammer wappnen. Ziel von PiS ist es nämlich, sämtliche Gerichte von Richtern, die nicht im Sinne der Regierungspartei urteilen, zu säubern.

Umbau geht weiter

Die Opposition wirft PiS vor, mit solchen Verfassungsgerichtsurteilen den schleichenden EU-Ausritt Polens vorzubereiten. Der liberale Oppositionsführer Donald Tusk twitterte kämpferisch, PiS habe die EU bereits verlassen, Polen aber noch nicht. „Nur wir Polen können uns dem erfolgreich entgegenstellen“, schrieb er auf Twitter. Vize-Außenminister Szymon Szynkowski vel Sek stellte indes rundweg die Kompetenz des EuGH, über das politische Justizsystem zu urteilen, in Abrede. „EU-Institutionen können nicht darüber entscheiden, wie das polnische Justizsystem konstruiert ist“, begründete er.

PiS scheint sich also auf die Organisation der Justiz statt Grundsätze wie die Unabhängigkeit der Gerichte zu kaprizieren. Gleichzeitig scheint man sich einem künftigen Kompromiss mit Brüssel nicht ganz verschließen zu wollen. Ein für Donnerstag angesetztes Verfassungsgerichtsurteil über die Frage, ob die nationale Verfassung Vorrang vor EU-Recht hat, wurde zum wiederholten Male vertagt. Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte das Verfassungsgericht im März um diese Grundsatzentscheidung ersucht. Das Verdikt wurde nun für Anfang August angesetzt.