EschRaymond Peruzzi und sein außergewöhnliches Hobby: Eine periglykophile Leidenschaft

Esch / Raymond Peruzzi und sein außergewöhnliches Hobby: Eine periglykophile Leidenschaft
Raymond Peruzzi und seine imposante Sammlung Foto: Editpress/Julien Garroy

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Glykophil, periglykophil? Nie gehört! Keine Angst, es handelt sich nicht schon wieder um eine neuartige Krankheit. Um zu erklären, was sich hinter der nicht allzu geläufigen Bezeichnung verbirgt, hat das Tageblatt einen der seltenen Luxemburger Spezialisten in der Materie befragt. Der Escher Raymond Peruzzi, selbst periglykophil, gibt Aufschluss.

Der 83-jährige Raymond Peruzzi wirkt geistig und körperlich äußerst fit. Eine Krankheit scheint also eher unwahrscheinlich. „Man unterscheidet zwischen glykophil und periglykophil“, erklärt er mit einem verschmitzten Lächeln. „Ich persönlich bin periglykophil.“ Und die Auflösung folgt auf dem Fuße. „Als Glykophilie bezeichnet man das Sammeln von Zucker, der leidenschaftliche Sammler ist demzufolge glykophil. Zuckersammlungen umfassen meist alle Arten von Portionszucker, vom Würfelzucker über Zuckerbriefchen bis hin zu Zuckersticks, auch ‚Buchettes’ genannt. Als periglykophiler Sammler entferne ich den Zucker mittels einer aufwendigen Prozedur aus den entsprechenden Hüllen, reinige diese gründlich und bügele sie anschließend.“

Um das dünne Papier nicht zu beschädigen, benutzt der Sachkundige dünne Nadeln zum Öffnen der Verpackungen. Ohne Inhalt lassen sich die platten Päckchen oder Papiere dann fein säuberlich in Ordnern unterbringen. Zusätzlich ist die Sammlung vor Beschädigungen durch unerwünschte Einschlüsse oder krabbelnde Besucher geschützt. Sammler, die die Hüllen samt Inhalt aufbewahren, fallen unter den Allgemeinbegriff glykophil.

Ein zuckersüßes Hobby

Wie aber kam der zweifache Familien- und mehrfache Großvater zu diesem doch außergewöhnlichen Hobby? Mit 50 Jahren musste Raymond laut der französischen Gesetzgebung seine Arbeit als Elektriker in der Mont-Rouge-Grube im nahegelegen Audun-le-Tiche niederlegen. Um nicht untätig zu Hause herumzusitzen, verdingte er sich als Techniker bei einem Großhandel für Kaffeezubehör. Viele der Kunden waren Kneipen oder Restaurants, die der frühere Minenarbeiter im Rahmen seiner Tätigkeit besuchte. Oft bekam er einen Kaffee angeboten und dann lagen auf der Untertasse meist Zuckerwürfel, -päckchen oder -sticks. Die aufgedruckten Motive machten den Portionszucker für Raymond zum Blickfang. Es war vielmals die originelle Gestaltung, die ihn beeindruckte. So richtig funkte es allerdings, als er eines Tages in gemütlicher Runde Zuckerbriefchen mit dem Aufdruck der olympischen Sportarten entdeckte. Die abgebildeten Figuren gefielen ihm so gut, dass in ihm sofort der Wunsch erwachte, die ganze Serie zu besitzen. Was ihm Mithilfe von Familie und Kollegen recht schnell gelang. Jeder, der ein „olympisches“ Briefchen zum Kaffee bekam, ließ es Raymond zukommen. Doch damit nicht genug! Er war auf den Geschmack gekommen und wurde bald zum leidenschaftlichen Sammler.

 Foto: Editpress/Julien Garroy

Wenn zu Anfang meist noch Werbebotschaften oder kunstvolle Logos der Cafés, Gaststätten und Restaurants die Verpackungen zierten, so sind diese heutzutage oft den Markennamen großer Zucker- oder Kaffeehersteller gewichen. Doch neben den Reklamen schmücken häufig weiterhin gedruckte Bilder, etwa bezaubernde Landschaften, kunstvolle Fotografien und bemerkenswerte Zeichnungen, die Verpackungen. Schon beim Morgenkaffee würden Freunde und Bekannte an ihn denken, dies ganz gleich, wo auf der Welt sie sich gerade befänden, stellt Raymond belustigt fest. Denn um an möglichst viele Verpackungen zu kommen, habe er all seine Vertrauten gebeten, ihm aus dem Urlaub, von Geschäftsreisen oder Ausflügen jeweils Zuckerpäckchen mitzubringen.

Und sein Hobby begleitet ihn auch während seiner Urlaubsreisen mit der Familie. Untertassen ziehen seinen Blick magisch an. Einmal entdeckte er auf einem vollbesetzten Terrassentisch in Venedig ein besonders schönes Exemplar. Er musste das Briefchen unbedingt haben. Sollte er die fremden Leute einfach danach fragen? Etwas verlegen bat er seine Enkelin, damals noch ein Kind, doch mal nett um das Zuckerbriefchen zu bitten. Und voller Stolz brachte sie ihm, neben dem begehrten Objekt, noch jede Menge anderer Zuckerpackungen mit. Aber auch im Alltag lässt der Zucker Peruzzi nicht los. Wird etwa in einem Film Kaffee serviert, suchen seine Augen sofort die Portionspackung. Kennt er den Würfel, das Briefchen oder den Stick, die Marke, den Aufdruck? Hat er dieses oder ein ähnliches Stück in seiner Sammlung? Obwohl ihm auch diese Gedanken manchmal durch den Kopf gehen, empfindet er meist ganz einfach Freude beim Anblick eines schönen Motivs.

Die Vielfalt der Welt auf 18.000 Zuckerhüllen

18.000 Portionshüllen befinden sich heute in seinem Besitz. Besonders stolz ist er, dass es in seiner Sammlung keine Doppelstücke gibt. Sozusagen alle Kontinente und viele ferne Länder sind vertreten. China zum Beispiel füllt mehrere Ordner. Raymonds Freund Aldo Camporesi bereiste dieses Land regelmäßig und stockte die Sammlung mit teils sehr außergewöhnlichen Objekten auf. Doch auch andere Länder, die früher als exotische Ferien- und Geschäftsziele galten, geben der Sammlung heute ein besonderes Flair. Laos, Südafrika, Kolumbien, Jordanien sind nur einige davon. Logischerweise nehmen auch die Zuckersouvenirs der Airlines einen besonderen Platz in den wohl sortierten Alben ein. Hier kann der aufmerksame Betrachter solche entdecken, die bereits vom Himmel verschwunden sind oder gar die Entwicklung des Logos der einheimischen Fluggesellschaft nachvollziehen. Besonders mag Peruzzi jene Verpackungen, auf denen Sinnsprüche, „mini-detti“, aufgedruckt ist. Zu seinen Lieblingsobjekten zählt dann auch eine Serie älterer Briefchen einer großen italienischen Kaffeemarke, deren Hüllen mit sehr filigranen Zeichnungen geschmückt sind.

 Foto: Editpress/Julien Garroy

Nach welchen Kriterien hat der Zuckerliebhaber eigentlich seine 18.000 Sammlerstücke aus unzähligen Ländern und mit den verschiedensten Motiven klassiert? „Das ist ganz unterschiedlich. Oft nach Ländern, aber auch nach Themen, Aktivitätsbereichen oder Marken. Besonders freue ich mich, wenn ich alle zu einer Serie gehörenden Motive ausfindig machen und komplette Serien zusammenstellen kann“, sagt er. Zur Veranschaulichung nimmt er den Ordner „Schweiz“ aus dem Regal. Wunderschön mutet die Kollektion mit den herrlichen Berg- und Landschaftspanoramas an! Das Besondere daran ist, dass sie eine besondere Serie, nämlich eine Sammelreihe mit der bildlichen und grafischen Darstellung aller Schweizer Kantone, beinhaltet. Es sei allerdings nicht immer einfach, komplette Serien aufzubauen, bedauert Peruzzi. Dafür brauche man viel Ausdauer und manchmal dauere es Jahre, um ein fehlendes Stück aufzuspüren. Wohl gebe es im Ausland mancherorts Sammlerbörsen, ob es hierzulande noch weitere Sammler gibt, wisse er allerdings nicht. Und jetzt legt der bescheidene Zuckeramateur seine anfängliche Zurückhaltung ab und bringt immer neue Alben herbei. Jedes einzelne davon ist einmalig und nötigt dem Betrachter höchste Anerkennung ab. Und da entdeckt man plötzlich, dass die Welt in ihrer ganzen Vielfalt eigentlich auf 18.000 kleine Zuckerpäckchen passt.

Selbstverständlich gibt sein Hobby auch so manches über den Menschen preis. Kann man Raymond Peruzzi einzig und allein auf seine Leidenschaft fürs Zuckersammeln beschränken? Absolut nicht! Es handelt sich dabei wohl um sein ungewöhnlichstes Hobby, daneben ist er aber auch ein begabter Musiker, der jahrelang bei der „Escher Biergaarbechter-Musek“ spielte und ihr heute noch als Kassierer dient. Als sein Freund Marco Turci den Dirigentenposten bei der „Éilerenger Musek“ übernahm, musizierte er gleichzeitig in beiden Blasorchestern. Das Interesse für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und das politische Geschehen wurde ihm sozusagen in die Wiege gelegt. So dürfte Raymond Peruzzi vielen noch als Sohn des Resistenzlers Luigi Peruzzi bekannt sein. Der Antifaschist hatte seine schlimmen Erlebnisse als KZ-Häftling, Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter sorgfältig in Tagebuchform festgehalten und später in Zusammenarbeit mit dem Historiker Denis Scuto als Buch bei „Éditions Le Phare“ veröffentlicht.

Das Zuckersammeln ist heutzutage sein liebstes Hobby. Er habe zwar dieses Jahr aufgrund der Covid-Krise weniger Zucker bekommen. Seine Bekannten seien kaum gereist, er selbst habe den Vorgaben entsprechend seinen Bewegungsradius begrenzt. „Dennoch habe ich viel aufzuarbeiten“, verrät der Sammler und schleppt Tüten und Kisten an, alle prall gefüllt mit Zuckerportionen. „Dies ist meine Arbeit für den kommenden Winter. Sie wird jede Menge Zeit in Anspruch nehmen, mir aber auch viel Freude bereiten. Und wer weiß, vielleicht entdecke ich noch einen Zuckerschatz.“ Wie immer, wenn er von seiner Leidenschaft spricht, glitzern die Augen des 83-Jährigen. Auf die Frage, ob denn nicht mal genug sei, hört man unterschwelligen Protest in seiner Stimme. „Solange ich Spaß habe, werde ich weitermachen. Und falls jemand ein besonderes Stück sein Eigen nennt, bin ich gerne Abnehmer.“

Raymond Peruzzi, Sohn des Resistenzlers Luigi Peruzzi, hat 18.000 Portionshüllen in seiner Sammlung 
Raymond Peruzzi, Sohn des Resistenzlers Luigi Peruzzi, hat 18.000 Portionshüllen in seiner Sammlung  Foto: Editpress/Julien Garroy
Verona
16. Dezember 2020 - 19.44

"Eine Krankheit ist eher unwahrscheinlich" Mmm, wie steht's mit Diabetes? ?