Alain spannt den Bogen„Plötzlich war da nur die Musik“: Chefdirigent Gustavo Gimeno zieht Bilanz

Alain spannt den Bogen / „Plötzlich war da nur die Musik“: Chefdirigent Gustavo Gimeno zieht Bilanz
Gustavo Gimeno Foto: Marc Borggreve

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Nach fünf Jahren als Chefdirigent des Orchestre Philharmonique du Luxembourg zieht Gustavo Gimeno Bilanz. Das Tageblatt hat sich mit ihm unterhalten.

Tageblatt: Herr Gimeno, Sie sind nun bereits seit fünf Jahren Chefdirigent des Orchestre Philharmonique du Luxembourg. Welche Bilanz können Sie jetzt schon ziehen?

Gustavo Gimeno: Also zuerst einmal möchte ich sagen, dass ich sehr glücklich hier in Luxemburg bin und dass meine Bilanz auch sehr positiv ist. Wenn man als Dirigent neu zu einem Orchester kommt, braucht man zuerst Zeit, um sich aneinander zu gewöhnen, um einen gemeinsamen Puls zu finden, gemeinsame Ideen, ein gemeinsames Ziel … Und wenn diese gemeinsame Basis erst einmal da ist, dann beginnt die richtige Arbeit im Sinne eines Aufbaus und einer Feinarbeit. Glücklicherweise haben wir, die Musiker, die administrative Leitung und ich, relativ schnell einen gemeinsamen Konsens gefunden, der uns hilft, zu einer wirklichen Einheit zu verschmelzen. In diesen fünf Jahren habe ich das OPL mindestens 120 Mal dirigiert, hier in Luxemburg, im Ausland oder auf großen internationalen Tourneen. Wir haben das bekannte Repertoire verfeinert und ein neues erarbeitet, wie beispielsweise die Musik der Zweiten Wiener Schule oder verschiedene Symphonien Anton Bruckners. Das OPL hat immer französische Musik gespielt, aber auch hier werden wir das Repertoire erweitern, wie mit den Werken von Dutilleux oder Varèse. Zudem haben wir für eine Reihe von CDs eingespielt; auch das ist für die Präsenz eines Orchesters auf dem internationalen Markt sehr wichtig. Und wir haben zusammen Opern wie „Simon Boccanegra“, „Macbeth“ oder „Don Giovanni“ gemacht. Sie sehen, innerhalb der fünf Jahre ist enorm viel passiert und wir sind viele verschiedene Wege gegangen. Und zweierlei ist mir besonders wichtig. Wir haben hier in Luxemburg ein wirklich interessiertes Publikum gewonnen, das sein Orchester liebt und hinter ihm steht, und wir sind auch auf einem guten Weg, uns einen festen Platz auf der internationalen Bühne zu erobern. Und das bringt wieder mit sich, dass hervorragende Solisten und Gastdirigenten mit dem Orchester auftreten wollen, denken Sie nur an Daniel Harding, Andris Nelsons, Bryn Terfel oder Krystian Zimerman.

Sie haben Krystian Zimerman angesprochen, mit dem Sie vor kurzem die fünf Klavierkonzerte von Beethoven aufgeführt haben. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm?

Er ist ein sehr eigenwilliger Pianist, der ganz genau weiß, was er will. Wir hatten vor drei Jahren bereits in Bernsteins 2. Symphonie „The Age of Anxiety“ zusammengearbeitet. Er war auch sehr glücklich mit der Aufführung und hat uns angeboten, zusammen die fünf Klavierkonzerte von Beethoven im Jubiläumsjahr zu machen. Und auch diesmal war es eine tolle Erfahrung. Wenn Krystian Zimerman sich wohlfühlt, dann ist alles möglich. Und er fühlte sich in Luxemburg sehr wohl, sodass auch die Zusammenarbeit sehr entspannt und konstruktiv verlief. Er ist ein wahnsinnig intelligenter Interpret, der die Musik nicht nur spielt, sondern sie auch denkt und ganz klare Vorstellungen hat. Aber er ist nicht engstirnig, sondern immer zum Dialog bereit. Zimerman ist ein äußerst sensibler Künstler, und wenn er sich nicht wohlfühlt, mit seinen Partnern, mit dem Klavier, dem Haus oder dem Publikum, dann kann er sehr verschlossen wirken und schwer zugänglich sein. Aber in Luxemburg – und ich glaube, das hat jeder im Saal gemerkt – war er sehr kommunikativ und offen.

Innerhalb dieser fünf Jahre hat sich auch der Klang des Orchesters verändert und besonders an Tiefe und Räumlichkeit gewonnen. War dies das Ziel oder das Resultat Ihrer Arbeit mit den Musikern?

Beides! Der Klang ist für mich sehr, sehr wichtig, denn jeder Komponist hat seinen eigenen Klang. Beethoven ist anders als Bruckner und Bruckner anders als Rossini. In diesem Sinne arbeite ich bewusst am Klang und seinen Farben. Auf der anderen Seite erlebe ich, dass die Musiker sich auch persönlich sehr einbringen, bewusster aufeinander hören und als Gruppen hervorragend funktionieren. Das Klangbild ist jetzt viel besser ausbalanciert, weitaus weniger direkt und scharf, weil beispielsweise die Blechbläser homogener in das Gesamtbild eingegliedert sind, das dadurch dann wieder an Wärme gewinnt. Auch die Streichergruppen; ihr Klang ist schöner und voller geworden. Und wir haben wundervolle Holzbläser. Und so entwickelt sich nach und nach auch im Orchester selbst ein eigenes Klangbild, eine eigene Klangidentität. Zuerst haben wir bewusst daran gearbeitet, nun ist das Klangbild natürlich und zu einem wichtigen Bestandteil unseres Spiels geworden.

Was waren denn Ihre persönlichen Höhepunkte?

Eine schwierige Frage. Ich bin eigentlich ein Mensch, der gerne nach vorne und nur selten zurückblickt. Der Moment der Aufführung ist wichtig, aber dann ist die Musik verklungen und für immer weg. Dann gilt es, sich neuen Projekten zuzuwenden. Aber wenn Sie mich so fragen …  Ich denke sehr gerne an meine allerersten Konzerte hier zurück, an unsere gemeinsamen Opernaufführungen und die Tournee nach Südamerika im letzten Jahr. Da haben wir in São Paulo die 1. Symphonie von Johannes Brahms gespielt und nach dieser Aufführung habe ich mir gesagt, das war das beste Konzert, was wir je gespielt haben. Da hat für mich einfach alles gestimmt. Plötzlich war da nur die Musik, losgelöst von allem. Ein spürbarer Fluss von Energie und Emotionen, und das während des ganzen Konzerts. Normalerweise gibt es diese intensiven Momente immer bei einem Konzert, aber meistens nur für Augenblicke. Aber hier hielt dieses kaum zu beschreibende Gefühl von Energie und Klang während der ganzen Brahms-Symphonie an. Eine ganz seltene Sternstunde, und alle, Publikum, Musiker und ich, haben das in dem Moment gespürt.

Innerhalb dieser fünf Jahre hat auch Ihre internationale Karriere mächtigen Schwung bekommen und Sie werden von den Top-Orchestern dieser Welt eingeladen, wie dem Concertgebouw Orchestra, dem Pittsburgh Symphony Orchestra, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem Los Angeles Philharmonic oder dem Gewandhausorchester Leipzig. Ist das denn nicht gefährlich für einen frisch gebackenen und jungen Dirigenten, der erst 2012 mit dem Dirigieren begonnen hat?

Ehrlich gesagt, ich mache mir wenig Gedanken darüber, weil ich es als eine sehr natürliche Entwicklung erlebe. Ich bin ja ein Profi; obwohl ich erst 2012 mit Dirigieren angefangen habe, war ich jahrelang als Schlagzeuger beim Concertgebouw tätig und kannte den Orchesterbetrieb ziemlich gut. Durch meine beiden Mentoren Mariss Jansons und Claudio Abbado, denen ich assistieren durfte, war ich zudem sehr gut vorbereitet worden. Als ich das Concertgebouw oder das Gewandhausorchester dirigiert habe, war ich keine 22, sondern 37 Jahre alt und hatte eigentlich sehr viel Lebens- und Konzerterfahrung. Und es fiel mir eigentlich sehr leicht, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Und wenn ich mir meinen Konzertkalender ansehe, dann dirigiere ich nicht so viele andere Orchester pro Spielzeit. Generell nehme ich vier bis fünf Gastdirigate an und mache eine Opernproduktion pro Jahr.

Neben Ihrer neuen Verpflichtung als Chefdirigent des Toronto Symphony Orchestra seit dieser Spielzeit …

… die ja leider keine ist, weil die Corona-Krise alle amerikanischen Orchester bis 2021 lahmgelegt hat. Meine erste Spielzeit in Kanada, auf die ich mich sehr gefreut hatte, ist also ins Wasser gefallen. Nun gilt es, die neue Spielzeit ins Auge zu fassen. Als Chefdirigent von zwei Orchestern auf zwei Kontinenten muss man schon genau planen. Und mit meinen vier bis fünf Gastdirigaten fühle ich mich völlig ausgelastet. Ich bin niemand, der um die ganze Welt hetzen muss, um verschiedene Starorchester zu dirigieren. Ich kann also sehr viel Musik machen, muss dafür aber nicht viel reisen. Das ist optimal für mich.