EditorialMit vollen Hosen in der Festung: Das Angstspiel mit der Migration und was uns dabei droht

Editorial / Mit vollen Hosen in der Festung: Das Angstspiel mit der Migration und was uns dabei droht
Ein Strand im Süden Europas: Für viele lauert auf der anderen Seite das Grauen in Form von Flüchtenden Foto: AFP/Alberto Pizzoli

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Was an dieser ganzen Migrationsgeschichte so stört und kaum Erwähnung findet, ist das Bild, das wir in Europa abgeben. Nicht das nach außen, das nach innen, unter uns Europäern. Unser Selbstverständnis scheint so schwach geworden, dass wir uns rasch bedroht sehen. Besonders reif wirkt das nicht. Dabei haben wir bereits einmal gezeigt, dass es auch anders geht.

Seit Jahren wird mit vielen Mitteln und wenig Mitgefühl an der Abschreckungsschraube gedreht, und die Leute kommen trotzdem. Offenbar kann keine Aussicht so abschreckend sein wie das Leben der Menschen in ihren Ländern. Vielleicht kann Europa einfach nie so abschreckend sein.

Eigentlich wäre das ein Grund für etwas, sagen wir mal, Kontinentalstolz. Doch ein solcher lässt sich daheim in den Mitgliedstaaten politisch schlecht ummünzen. Angst zu schüren, ist der einfachere Weg zur ertragreichen Stimmenernte. Mit der Folge, dass man sich eine Angsthasengesellschaft heranzüchtet – die sich dann Beschützerpolitiker wählt. Ein Trick so alt wie die Politik.

Europa bietet den allermeisten alles, was es zum Leben braucht, und oft auch ein bisschen mehr. In den Herkunftsländern der Flüchtenden ist oft nicht einmal Ersteres der Fall. Hier gibt es Sicherheit und Frieden, dort oft Krieg und Terror. Ein Abschreckungsszenario, das all das überlagert, wollen wir uns nicht vorstellen. Unsere Pull-Effekte sind nicht menschenwürdige Auffanglager und aus Seenot Gerettete. Unsere Pull-Effekte sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaat, Meinungsfreiheit. Die sollten wir nicht abbauen, um andere vom Kommen und Mitmachen abzuhalten.

Bemerkenswert bleibt unsere Angst vor den paar Fremden, die bei uns Schutz suchen. Ihre Zahl ist vergleichbar mit einem größeren Dorf, dem gegenüber steht ein halber Kontinent. Rechte und Konservative regen sich über die Emotionalisierung der Debatte auf – und senden gleichzeitig Angstappelle an die Menschen aus.

Im Jahr 2015, als wirklich viele Menschen kamen, haben Europas Staaten das nahezu reibungslos gemeistert. Das ist im Kampf um die Deutungshoheit in der Flüchtlingsfrage untergegangen. Das können sich die Rechten, die damalige Unsicherheit in voller Berechnung ausnutzend, auf ihrer Habenseite verbuchen.

Auch dieser Tage wird das Jahr 2015 noch beharrlich zur Katastrophe für Europa erklärt. Mit so viel Erfolg, dass mittlerweile vergessen scheint, wie großartig diese humanitäre Herausforderung gemeistert wurde. Die Welt schaute mit Bewunderung nach Europa. Etwas mehr als eine Million Menschen kamen damals. Jetzt versetzen 13.000, die bereits in der Europäischen Union sind, alle in Schrecken. Ein Angstzeugnis.

Heutzutage braucht es für eine restriktive Flüchtlingspolitik keine Rechten mehr in Regierungsämtern. Das regeln auch die alten Volksparteien, die deren Migrationsagenda erfolgreich kopiert haben. Nur die Sprache wirkt gebügelter, auf bürgerlich-kompatibel hin ausgeglättet.

Nationalpolitisch wurde und wird diese Angst gerne forciert, europapolitisch wurde keine Lösung angenommen. Kommende Woche will die EU-Kommission einen neuen Vorschlag für eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik vorlegen. Über den entscheiden dann die Staaten. Soll das Chaos irgendwann ein Ende finden, müssen sie sich auf einen Kompromiss einigen. Dass das schnell gehen könnte, ist kaum vorstellbar. Das Zähneknirschen beider Lager ist jetzt schon vernehmbar.

Bislang blieb Europas Politik in Sachen Migration nach außen eine der Abschreckung, die Rhetorik nach innen eine der Angstmache. Es besteht die Gefahr, dass diese vorgegaukelte Krise uns Europäer irgendwann endgültig zu Angsthasen macht. Dann können wir mit vollen Hosen in unserer Festung hocken.

Arthur Feyder
18. September 2020 - 18.11

" Le premier élément de cette politique (migratoire ) serait la proclamation du droit de vivre et de travailler au pays, pour n'importe quel être humain, tant il est vrai qu'aucun ne devrait être contraint de quitter sa famille et sa terre. Ce qui implique la fin des opérations militaires à la remorque des Etats-Unis, comme la fin de la complaisance envers les multinationales qui s'approprient les matières premières de pays fragiles en maintenant la corruption de leurs élites " (Natacha Polony, Marianne 18-24 septembre 2020). Causa efficiens: Nato versus Afghanistan, Lybien, Koalition der Willigen im Irak Krieg, etc. und das alles im Namen der Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaat, Meinungsfreiheit, Pull-Effekt genannt.

Clemens RM
18. September 2020 - 14.15

Danke für die klaren Worte! Es wäre lächerlich wenn es nicht abgrundtief traurig wäre! Jegliche Empathie scheint verloren gegangen zu sein! Ist es ein Wunder bei ‚Leitwölfen‘ wie der präpotenten Fehlbesetzung Sebastian Kurz? Er ist mein Kotzbrocken des Monats! @Armand Back- Haut huet sech mäin Abo rentéiert! Merci!

J.Scholer
18. September 2020 - 10.49

@Grober: Wären die Deutschen so massiv geflüchtet , es hätte den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder nicht gegeben. Mit unseren Macht- und Wirtschaftsinteressen sind wir Europäer mitverantwortlich für die Krisen in der Welt. Anstatt eines Marshallplan ähnlich den Krisenländern zu helfen, animieren jene Leute die genügend Geld haben, das Wissen und Know-how zum Wiederaufbau haben zur Flucht.Jene denen das nötige Geld fehlt, die Mehrheit in den Krisenregionen lassen wir also elend krepieren. Flüchtlinge aufnehmen dient zur Beruhigung des Gewissens , ein Obulus wir die richtigen Probleme nicht angehen.

Grober J-P.
18. September 2020 - 9.19

Man sollte die Bilder der 40-ger Jahre immer wieder hervorholen. Damals waren viele auf der Flucht, vielen wurde geholfen, davon sogar in der Familie. Die damaligen Helfer sind rar geworden, hätten ein paar Ratschläge parat.