ProtesteMit Knüppeln gegen Gehstöcke: In Belarus demonstrieren jetzt auch die Rentner

Proteste / Mit Knüppeln gegen Gehstöcke: In Belarus demonstrieren jetzt auch die Rentner
Rentnermärsche sind die neuste Protestform in Belarus – auch sie werden vom Lukaschenko-Regime niedergeknüppelt Foto: AFP

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Die Opposition kündigt neue Proteste an, Lukaschenkos Regime spricht vom baldigen Einsatz von Schusswaffen. Die Lage in Belarus bleibt auch zehn Wochen nach der mutmaßlich gefälschten Wahl extrem angespannt.

Muttertag in Belarus: Frauen marschieren durch die Hauptstadt Minsk. „Mütter gegen Gewalt“, „Wir wollen Frieden!“ und „Hoch lebe Belarus!“, skandierten die Gruppen zumeist betagter Frauen. Zwei Tage zuvor hatten die Sicherheitskräfte rund Hunderte Rentner und Rentnerinnen festgenommen und weit mehr teils brutal zusammengeschlagen.

Rentnermärsche sind die neuste Protestform in Belarus, das auch in der zehnten Woche nach den mutmaßlich gefälschten Präsidentenwahlen nicht zur Ruhe kommt. Während lange vor allem an den Wochenenden demonstriert wurde, ziehen inzwischen kleinere Protestmärsche jeden Tag durch die Hauptstadt Minsk. Den Anfang machten Mitte August die „Frauen in Weiß“, die Solidaritätsketten gegen Polizeigewalt bildeten. Vor Monatsfrist kamen abendliche Proteste in den Minsker Außenquartieren hinzu und mit Beginn des Wintersemesters die Studenten. Seit ein paar Tagen werden nun abends Verkehrsknotenpunkte mit Menschenketten lahmgelegt, und seit Montag demonstrieren die Rentner, die letzte Stütze des Autokraten Alexander Lukaschenko im gemeinen Volk.

Rentner, Frauen und Kinder gelten als besonders schützenswerte Mitbürger in Belarus. Doch hat sich gezeigt, dass Lukaschenkos Sicherheitskräfte auch vor ihnen keine Hemmungen mehr haben. Laut der russischen Website Mediazone sind seit Beginn der Proteste am 9. August mindestens 1.376 Bürger von Sicherheitskräften teils schwer verletzt worden, darunter 57 Frauen und 24 Minderjährige. Dazu sind bisher fünf Tote zu beklagen. Insgesamt wurden in den letzten zehn Wochen über 14.000 Belarussen festgenommen, davon rund 700 alleine seit Sonntag.

„Wenn nötig“ Einsatz scharfer Munition

Doch die Zahl der Todesopfer könnte sich bald dramatisch erhöhen. Am Montag nämlich kündigte das Innenministerium an, Polizei, Innenministeriumstruppen und Armee würden künftig „wenn nötig“ scharfe Munition gegen Protestierende einsetzen. Als Grund wurde die angebliche Radikalisierung der Demonstranten angeführt. „Das sind keine friedlichen Bürgeraktionen mehr“, klagte Vize-Innenminister Gennady Kozakewitsch, „inzwischen stehen uns Gruppen von Kämpfern, Radikale, Anarchisten und Fußballhooligans gegenüber.“ Sie würden mit Steinen und Flaschen nach den Ordnungshütern werfen. Dies soll nun statt mit Wasserwerfern, Blendgranaten und Gummigeschossen mit Gewehren gestoppt werden.

Die Proteste sollen laut Oppositionsführerin Switlana Tichanowskaja ab 25. Oktober erneut an Fahrt gewinnen. Dann läuft das Ultimatum der Opposition für einen freiwilligen Machtverzicht Lukaschenkos ab.

Doch der Machthaber in Minsk hat derweil einen wohl taktisch bedingten Dialog mit der Opposition begonnen. Ende letzter Woche begab sich der Diktator völlig überraschend ins Hochsicherheitsgefängnis seines Geheimdienstes KGB, um mit rund einem Dutzend dort einsitzenden Oppositionspolitikern zu sprechen. Darunter befanden sich seine beiden aussichtsreichsten Gegenkandidaten Wiktor Babariko und Sergej Tichanowski, der Ehemann der späteren mutmaßlichen Wahlsiegerin. Laut einem später vom Präsidialamt veröffentlichten Video lud sie Lukaschenko ein, Vorschläge für seine geplante Verfassungsreform auszuarbeiten. Auch entließ er danach zwei wenig einflussreiche Oppositionspolitiker aus der Haft.

Eine belarussische Verfassungsreform und vorgezogene Neuwahlen per 2022 werden von Moskau ausdrücklich unterstützt, auf dessen Hilfe der durch die Protestwelle angeschlagene Lukaschenko mehr denn je angewiesen ist. „Jeder Dialog ist begrüßenswert, auch mit der Opposition“, kommentierte ein Kreml-Sprecher am Wochenende und ließ damit durchblicken, dass die Idee, die gefangenen Oppositionsführer zu treffen, eher aus Moskau denn Lukaschenkos Präsidialamt kam.

Am Mittwoch machte sich auch der russische Außenminister Sergej Lawrow für diesen Weg stark: Es bestünden keine Hindernisse für Kontakte zwischen Kreml und belarussischer Opposition, sagte er. Auch müssten die Aktionen der Sicherheitskräfte proportional zur Bedrohung sein. „Wir sind gegen Gewalt und gegen ein Ultimatum“, wandte sich Putins Außenminister sowohl gegen Lukaschenko wie Tichanowskaja.